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06.05.2009 11:40

Unter vielen Schichten verborgen: eine bisher unbekannte Sprache und Schrift des ostkirchlichen Christentums

Ulrike Jaspers Marketing und Kommunikation
Goethe-Universität Frankfurt am Main

    FRANKFURT. Zehn Jahre lang ist ein Forscherteam unter Leitung des Frankfurter Sprachwissenschaftlers Prof. Jost Gippert der Frage nachgegangen, welche Texte in drei Palimpsest-Handschriften verborgen sind, die für die Entwicklung des ostkirchlichen Christentums und des Schrifttums im Kaukasus von erheblicher Bedeutung sind. Jetzt ist es den deutschen, französischen und georgischen Wissenschaftlern gelungen, den Inhalt zu entschlüsseln.

    Dabei sind die Forscher unter anderem auf das erste handschriftliche Material einer bisher unbekannten Sprache aus dem 5. Jahrhundert gestoßen, die von den kaukasischen "Albaner" gesprochen wurde, einem Volk, das in der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends im Zuge der Etablierung einer christlichen Kirche mit eigenem Oberhaupt auch eine eigene Schrift entwickelte und diese bei der Niederschrift christlicher Textzeugnisse verwendete.

    Für das Projekt "Neue Wege zur wissenschaftlichen Bearbeitung von Palimpsest-Handschriften kaukasischer Provenienz" stellte die Volkswagen-Stiftung den Projektpartnern rund 150.000 Euro zur Verfügung. Als Palimpsest (griechisch: "wieder abgekratzt") bezeichnet man ein beschriebenes Stück Pergament - seltener Papyrus -, dessen ursprüngliche Beschriftung abgeschabt, abgewaschen oder beispielsweise mit Bimsstein abgerieben und dann wieder neu überschrieben wurde. Die Praxis, nicht mehr aktuelle Texte zu löschen und den Schriftträger ein zweites oder auch drittes Mal zu verwenden, war im Mittelalter aus Gründen der Sparsamkeit üblich. Mit Hilfe moderner fotografischer Verfahren lässt sich der Originaltext manchmal wieder sichtbar machen.

    Bei den jetzt untersuchten Handschriften handelt es sich um zwei 1994 im Katharinen-Kloster auf dem Sinai entdeckte Palimpseste sowie um den Codex Vindobonensis georgicus 2, eine umfangreiche Handschrift, die aus einem ehemaligen georgischen Kloster in Jerusalem stammt und etwa seit den 1930er Jahren in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien aufbewahrt wird. Die untere Schicht dieser Handschrift stammt aus 16 verschiedenen Originalhandschriften und enthält einige der ältesten Texte der georgischen Literatur überhaupt. Die beiden Codices vom Sinai, deren jüngere, obere Schicht ebenfalls georgisch ist, basieren auf mindestens sechs verschiedenen Originalhandschriften aus dem frühen Mittelalter, die in vier unterschiedlichen Sprachen und Schriften des ostkirchlichen Christentums geschrieben sind - Armenisch, Georgisch, Syrisch und Kaukasisch-Albanisch.

    Mit neuen technologischen Verfahren, bei denen die einzelnen Textschichten und das Schreibmaterial durch Scheidung der unterschiedlichen Anteile am Farbspektrum fotografisch von einander getrennt werden, konnten jetzt wesentliche Fortschritte bei der Entzifferung der älteren, unteren Textschichten erzielt werden. Von besonderer Bedeutung sind dabei die kaukasisch-albanischen Fragmente in den Sinai-Palimpsesten, da mit ihnen das erste handschriftliche Material dieser im 5. Jahrhundert verschriftlichten, bisher jedoch praktisch unbekannten Sprache vorliegt. Es handelt sich um etwa die Hälfte des Johannes-Evangeliums sowie zahlreiche andere Lesungstexte aus dem Neuen und Alten Testament, deren kaukasisch-albanische Übersetzung etwa aus dem 7. Jahrhundert stammen dürfte. Die jetzt erschienene zweibändige Erstedition, die im wesentlichen in Zusammenarbeit von Prof. Jost Gippert (Frankfurt) und Prof. Wolfgang Schulze (München) erarbeitet wurde, erschließt dieses Material mit umfangreichen Angaben zur Geschichte, zur Schrift, zur Grammatik und zum Wortschatz des Kaukasisch-Albanischen.

    Die kurze Schriftlichkeitsperiode der kaukasischen "Albaner" endete mit der Islamisierung des in der Antike etwa im Nordwesten des heutigen Aserbaidschan beheimateten "albanischen" Gebiets. Die Sprache der kaukasischen "Albaner" hat übrigens nichts mit der der Albaner auf der Balkan-Halbinsel zu tun. Es handelt sich vielmehr, wie die jetzt erfolgte Entzifferung der Palimpseste bewiesen hat, um die ältere Vorstufe einer der heute noch existierenden "kleineren" Sprachen der ostkaukasischen Familie, des Udischen, das jüngst in einem flankierenden, ebenfalls von der VW-Stiftung geförderten Projekt ("Endangered Caucasian Languages in Georgia") in Kooperation der Partner an den Universitäten Frankfurt und München mit reichhaltigem audiovisuellem Material dokumentiert wurde. Das Udische gehört damit zu den wenigen Sprachen der Erde, deren Geschichte sich über einen Zeitraum von 1500 Jahren zurückverfolgen lässt.

    Informationen: Prof. Jost Gippert, Professur für vergleichende Sprachwissenschaften, Campus Bockenheim, Tel. (069) 798-25054, gippert@em.uni-frankfurt.de


    Bilder

    Aus dem Wiener Palimpsest: Ausschnitt aus der ältesten georgischen Fassung des Martyriums der Heiligen Christina (circa 6. bis 7. Jahrhundert), die älter ist als alle bisher bekannten griechischen und lateinischen Versionen der Legende. Darüber geschrieben ist ein Heiligenkalender (etwa aus dem 12. bis 13. Jahrhundert) in der jüngeren Ausprägung der georgischen Schrift. Die untere Schrift ist nur in den seltensten Fällen mit dem bloßen Auge dechiffrierbar wie hier; in den meisten Fällen bedarf es aufwendiger fotografischer Verfahren, der multispektralen Analyse.
    Aus dem Wiener Palimpsest: Ausschnitt aus der ältesten georgischen Fassung des Martyriums der Heilig ...

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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Kulturwissenschaften, Sprache / Literatur
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

    Aus dem Wiener Palimpsest: Ausschnitt aus der ältesten georgischen Fassung des Martyriums der Heiligen Christina (circa 6. bis 7. Jahrhundert), die älter ist als alle bisher bekannten griechischen und lateinischen Versionen der Legende. Darüber geschrieben ist ein Heiligenkalender (etwa aus dem 12. bis 13. Jahrhundert) in der jüngeren Ausprägung der georgischen Schrift. Die untere Schrift ist nur in den seltensten Fällen mit dem bloßen Auge dechiffrierbar wie hier; in den meisten Fällen bedarf es aufwendiger fotografischer Verfahren, der multispektralen Analyse.


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