Zentralasien ist seit Januar 2010 ein neuer Forschungsbereich am Berliner Zentrum Moderner Orient. Damit erweitert das Zentrum seinen Fokus und die vergleichende Perspektive auf muslimisch geprägte Gesellschaften um eine wichtige Region.
Dr. Dina Wilkowsky, Dr. des. Sophie Roche und Jeanne Féaux de la Croix nehmen im Laufe dieses Jahres ihre Projektarbeiten zu Kasachstan, Tadschikistan und Kirgisien auf. Anhand unterschiedlicher Aspekte untersuchen sie den Wandel in der Region und ihren Gesellschaften, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion unabhängige Wege auf politischer, sozialer und religiöser Ebene eingeschlagen haben.
Die drei Wissenschaftlerinnen analysieren in ihren Projekten diese Entwicklungen, die in engem Zusammenhang mit dem Übergang von kommunistischen zu unabhängigen demokratischen Gesellschaften stehen. Die Veränderungen finden nicht nur auf politisch-ideologischer Ebene statt, sondern äußern sich auch in aufkommenden Generationskonflikten und Neuverhandlungen von nationaler und religiöser Identität.
Trotz der Bestrebungen der kommunistischen Regime zur Unterdrückung religiöser Praxis blieb der Islam ein zentraler identitärer Bestandteil in vielen zentralasiatischen Gesellschaften. Mit dem Umbruch in der Region veränderten sich die Bezüge zu Religion und die Dringlichkeit der Suche nach nationaler Einheit.
Dr. Dina Wilkowsky untersucht in ihrem Forschungsprojekt „Streitbare Öffentlichkeiten: ‚Diskussionsklubs‘ in Kasachstan zwischen Politik, Wissenschaft und Islam“ Debattenclubs von Intellektuellen in Kasachstan. Sie betrachtet die Clubs als öffentliche Institutionen und als Produkt des politischen und gesellschaftlichen Wandels im post-sowjetischen Kasachstan, die sich im Besonderen mit der Neubewertung islamischer Werte und nationaler Kultur befassen. Unter Berücksichtigung der sozialen und religiösen Hintergründe ihrer Mitglieder beschäftigt sich Dina Wilkowsky mit den politischen Inhalten ihrer Auseinandersetzungen. Sie bezieht in ihre Analyse den Gebrauch des Internets und anderer Massenmedien mit ein, die für die Verbreitung der Debatten von großer Bedeutung sind.
In diesem Rahmen hielt der Großmufti von Kasachstan im März 2010 auf Einladung des ZMO einen Vortrag über „Islam in Kasachstan: Traditionen und aktuelle Entwicklungstendenzen“ in Berlin. Der Besuch des Muftis stellte eine Möglichkeit dar, einen Akteur selbst sprechen zu lassen.http://www.zmo.de/veranstaltungen/2010/Großmufti_Kas_EINLADUNG.pdf
In ihrem Projekt „Jugend und Identität in Text und Kontext: Islamischer Fundamentalismus bei jungen Tadschiken interdisziplinär betrachtet“ beschäftigt sich Sophie Roche mit dem Selbstverständnis und dem Alltag junger tadschikischer muslimischer Männer in Bezug zu ihrer ideologischen Ausrichtung und religiösen Praxis. Im Zentrum des Projekts, das in Zusammenarbeit mit Philipp Reichmuth, von der Universität Halle durchgeführt wird, steht die Analyse eines „Mujahid-Handbuchs“, das in tadschikischer und arabischer Sprache veröffentlicht wurde. In einem interdisziplinären Ansatz, der eine ethnographische Perspektive mit einer islamwissenschaftlichen Textanalyse kombiniert, untersuchen Roche und Reichmuth inwiefern dieser Text und die darin verwendeten Ideologien Einfluss auf jungen Muslime und die Konstruktion ihrer islamischen Identität haben.
Ab September 2010 erforscht Jeanne Féaux de la Croix die Beziehungen zwischen den Generationen am Beispiel des ökologischen Wissens in Kirgisien und greift damit einen weiteren Aspekt post-sowjetischer Gesellschaften in Zentralasien auf.
Anhand der ländlichen Bevölkerung Kirgisiens und der Verhandlung von Wissen über Weidewirtschaft, die aufgrund der nomadischen Vergangenheit als ein wichtiges Element kirgisischer nationaler Identität wahrgenommen wird, untersucht sie aufkommende Spannungen in der Gesellschaft. Dort konkurrieren bzw. interagieren drei unterschiedliche Wissensformen: die als sowjetische wahrgenommene Wissenschaft, die kirgisische nomadische „Tradition“ und neue Formen nachhaltiger Landwirtschaft, die jeweils von unterschiedlichen Akteuren vertreten werden. Dabei stehen sich die ältere Generation und deren „traditionelles“ Wissen und die jüngeren Vertreter der politischen Eliten gegenüber, die sich für einen grundlegenden Wandel in der ländlichen Existenzwirtschaft einsetzen und dabei auch von den Interessen internationaler Geldgebern beeinflusst werden. Wie das Verhältnis von Wissen und Macht innerhalb der kirgisischen Gesellschaft ausgehandelt wird, ist ein zentrales Interesse des Projekts.
Dr. Dina Wilkowsky studierte Orientalische Sprachen und Literatur an der staatlichen Universität Usbekistans in Taschkent und promovierte über „Traditionen und Innovationen in der Gegenwartskultur Ägyptens: Philosophische Probleme“ an der Lomonosow Universität in Moskau. Anschließend war sie als Dozentin und Leiterin des Lehrstuhls für Orientalische Sprachen an der Fakultät für Internationale Beziehungen der Al-Farabi Universität von Almaty in Kasachstan tätig. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin arbeitete sie am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin und bei der Deutsch-Kasachischen Gesellschaft e.V. in Berlin.
Dr. des. Sophie Roche studierte Ethnologie an der Freien Universität Berlin und Zentralasien-Studien an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie schloss ihr Studium mit einer Arbeit zum Thema „Bürgerkrieg und Wandel rechtlicher Flexibilität. Ethnographische Fallstudie von Generationskonflikten in Vadi Rasht/Duschanbe (Tadschikistan)“ ab. Im Anschluss promovierte sie über „Domesticating Youth. The youth bulge in post-civil war Tajikistan“ am Max Planck Institut für ethnologische Forschung in Halle/Saale und unterrichtete am Seminar für Ethnologie der Martin-Luther-Universität in Halle/Saale.
Jeanne Féaux de la Croix studierte Geschichte an der Universität Edinburgh und Sozialanthropologie an der Universität Oxford. Sie schließt zurzeit ihre Promotion über „Moral Geographies in rural Kyrgyzstan: how pastures, dams and holy sites matter in striving for a good life“ am Departement of Social Anthropology der Universität St. Andrews in Schottland ab.
Das ZMO ist die einzige Forschungseinrichtung Deutschlands, die sich interdisziplinär und in historisch-vergleichender Perspektive mit dem Nahen Osten, Afrika, Süd- und Südostasien und Zentralasien befasst. Das zentrale Forschungsprogramm 'Muslimische Welten - Welt des Islams? Entwürfe, Praktiken und Krisen des Globalen' untersucht von 2008 bis 2013 ein breites Spektrum historischer wie gegenwärtiger Dynamiken innerhalb und zwischen muslimisch geprägten Gesellschaften seit dem 18. Jahrhundert. Dieses Programm wird vom BMBF gefördert, die Grundausstattung trägt das Land Berlin.
Für Interviewanfragen wenden Sie sich bitte an regina.sarreiter@hu-berlin.de
http://www.zmo.de/forschung/projekte_2008/wilkowsky_public.html (CV Wilkowsky)
http://www.zmo.de/Mitarbeiter/Roche/cv_roche_e.html (CV Roche)
http://www.st-andrews.ac.uk/anthropology/dept/phdstudents/?studentid=30 (CV Féaux de la Croix)
http://www.zmo.de/forschung/projekte_2008/wilkowsky_public.html (Projekt Wilkowsky)
http://www.zmo.de/forschung/projekte_2008/roche_youth_identity.html (Projekt Roche)
http://www.zmo.de/wirueberuns/material/Bulletin_Nr_18.pdf (ZMO Bulletin No. 18/ June 2010)
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Gesellschaft, Kulturwissenschaften, Politik, Religion, Sprache / Literatur
überregional
Buntes aus der Wissenschaft, Forschungsprojekte
Deutsch
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