Die Geschichte der Bochumer „Judenhäuser“ und ihrer Bewohner in der Zeit des Nationalsozialismus ist erstmals vollständig erforscht. In seinem soeben erschienenen Buch „Die Entjudung des Wohnraums“ dokumentiert der Bochumer Historiker Dr. Hubert Schneider den Weg von der Wohnungsräumung und der Einrichtung der Judenhäuser bis hin zur Deportation und Vernichtung der Menschen. Aus der umfangreichen, 470 Seiten starken Studie geht hervor, dass es in Bochum nicht wie bisher angenommen acht, sondern zehn „Judenhäuser“ gab.
Bochum, 26.8.2010
Nr. 255
Die „Entjudung“ des Wohnraums
„Judenhäuser“ in Bochum: ihre Geschichte, ihre Bewohner
Als Buch erschienen: RUB-Historiker legt erste vollständige Studie vor
Die Geschichte der Bochumer „Judenhäuser“ und ihrer Bewohner in der Zeit des Nationalsozialismus ist erstmals vollständig erforscht. In seinem soeben erschienenen Buch „Die Entjudung des Wohnraums“ dokumentiert der Bochumer Historiker Dr. Hubert Schneider den Weg von der Wohnungsräumung und der Einrichtung der Judenhäuser bis hin zur Deportation und Vernichtung der Menschen. Aus der umfangreichen, 470 Seiten starken Studie geht hervor, dass es in Bochum nicht wie bisher angenommen acht, sondern zehn „Judenhäuser“ gab. Eine besondere Rolle spielte die Israelitische Schule in der Wilhelmstraße 16, die ab Januar 1942 Ausgangspunkt für die Transporte Bochumer Juden in die Konzentrations- und Vernichtungslager war. Dr. Hubert Schneider war bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2004 Wissenschaftler am Historischen Institut der RUB.
Zehn Bochumer „Judenhäuser“
„Im Juli 1939 wohnten, wie aus den Freimarkbriefen hervorgeht, insgesamt neun Personen im Haus Horst-Wessel-Straße 56. Fasst man alle verfügbaren Daten zusammen, waren es bis 1942 insgesamt 29 Personen, die in dem Haus lebten. Das Ehepaar Vollmann – Ehefrau Emmy war evangelisch – wurde nicht deportiert. Die anderen 27 Menschen wurden in Transporten nach Riga, Zamosc, Theresienstadt verschleppt. Nur das Ehepaar Freimark hat überlebt.“ Das Haus in der damaligen Horst-Wessel-Straße, heutigen Kanalstraße, ist ein Beispiel für Konzentration jüdischer Bürger in Bochum. Detailliert, anschaulich und anhand authentischer Quellen beleuchtet Hubert Schneider alle „Judenhäuser“ in Bochum. Er zeigt auf, wie es zur „Entjudung“ kam, unter welch teils katastrophalen Bedingungen die Menschen in den Häusern leben mussten und schildert ihre Einzelschicksale – etwa in Auszügen aus Briefen oder Tagebucheinträgen. Schneider fand heraus, dass es neben den bekannten „Objekten“ in der Horst-Wessel-Straße, Rheinischen Straße 28, Rottstraße 9 und 11, Goethestraße 9, Vidumestraße 11, Franzstraße 11 und der Israelitischen Schule in der Wilhelmstraße noch zwei weitere „Judenhäuser“ in der Dibergstraße Nr. 2 und 4 gab.
„Die ganze Judenheit auf einem Haufen“
„An eine Diele stoßen die Türen dreier Ménages: Cohns, Stühlers, wir. Badezimmer und Klo gemeinsam. Küche gemeinsam mit Stühlers, nur halb getrennt – eine Wasserstelle für alle drei -, ein kleiner anstoßender Küchenraum für Cohns. Zwisc hen Cohns und Stühlers starke Spannung. … Es ist schon halb ein Barackenleben, man stolpert übereinander, durcheinander. Und die ganze Judenheit auf einem Haufen.“ So schildert zum Beispiel Victor Klemperer in seinen Tagebüchern das zunehmend belastende Leben in den „Judenhäusern“. Von Mai 1940 bis Februar 1945 lebte er zusammen mit seiner christlichen Ehefrau in insgesamt drei Dresdner „Judenhäusern“.
Wegbereitung zur Deportation
„Zur Nachahmung empfohlen! Heraus mit den Juden aus den guten und billigen Wohnungen!“ Mit dieser populistischen Kampfparole der Nationalsozialisten aus dem Jahre 1939 begann die systematische Vertreibung der österreichischen und deutschen Juden aus ihren angestammten Wohnungen. Hinter dieser Politik standen nicht nur ideologische Prinzipien, sondern auch handfeste materielle Interessen. Viele Nichtjuden profitierten davon, heißt es in dem Buch. Hubert Schneider zeigt allerdings auch auf, dass anfangs manch übereifrige Deutsche vom Regime zurückgepfiffen und zum Beispiel fristlose Kündigungen per Gesetz für unwirksam erklärt wurden. Vielmehr begannen aus Angst jüdische Mitbürger selbst, ihre Wohnungen aufzugeben und die räumliche Nähe zu anderen Juden zu suchen. Damit spielten sie dem Regime in die Karten – dem Weg zu den nächsten Schritten, den „Judenhäusern“ und der Deportation, war Tür und Tor bereitet.
Die Studie: Beispielhaft für andere Städte
Die Stadt Bochum begann in den 1960er-Jahren, die Geschichte der Judenverfolgung und -vernichtung aufzuarbeiten. „Doch es blieb Hubert Schneider vorbehalten, mit seiner Arbeit eine vollständige und in die Tiefe gehende Geschichte der Bochumer „Judenhäuser“ und ihrer Bewohner vorzulegen. Schneider stellt zu Recht fest, dass eine Gesamtdarstellung zum Thema Judenhäuser bisher nicht existiert“, schreibt die Leiterin des Bochumer Stadtarchivs und Zentrums für Stadtgeschichte Dr. Ingrid Wölk in ihrem Vorwort zum Band. „In den zahlreichen lokalgeschichtlichen Abhandlungen wird das Thema entweder überhaupt nicht oder nur kurz behandelt“, so Hubert Schneider. Ausnahmen seien bisher lediglich die Darstellungen von Karlsruhe und Leipzig. Auch in der Nachbarstadt Hattingen ist die Geschichte des einzigen „Judenhauses“ – in der Ruhrstraße 8 – relativ gut erforscht. Für Bochum und damit beispielhaft für viele andere große Städte Deutschlands und Österreichs leistet der Historiker Schneider mit seiner Studie wertvolle Pionierarbeit.
Der Autor
Dr. Hubert Schneider, der am 17. Februar 1941 in Karlsruhe als Sohn einer Arbeiterfamilie geboren wurde, fand über Umwege zur Geschichtswissenschaft: Schon mit 14 Jahren musste er in der Industrie arbeiten, holte aber auf der Abendschule sein Abitur nach und studierte dann, zuerst gegen den Willen der Familie, in Freiburg im Breisgau Geschichte, Germanistik und Politik. 1967 machte er sein Staatsexamen und arbeitete anschließend als Lehrer. Eine Bekanntschaft mit Moritz Schlesinger, einem deutsch-jüdischen Diplomaten der Weimarer Zeit beeinflusste seine Entscheidung für die Wissenschaft. 1972 wurde Schneider promoviert und arbeitete bis 1974 an der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe, dann an der noch jungen Bochumer Uni bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2004. Am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte am Historischen Institut der RUB spezialisierte er sich auf die Geschichte der Sowjetunion, Polens und der Tschechoslowakei. Besonders engagierte er sich für den Erhalt der jüdischen Spuren und der Erinnerung an die Juden in Bochum sowie für den deutsch-polnischen Studierendenaustausch.
Titelaufnahme
Schneider, Hubert: Die Entjudung des Wohnraums – Judenhäuser in Bochum. Die Geschichte der Gebäude und ihrer Bewohner. Schriften des Bochumer Zentrums für Stadtgeschichte Nr. 4. Lit Verlag, Münster 2010, 470 Seiten, 29,90 Euro, ISBN: 978-3-643-10828-9
Weitere Informationen
Dr. Hubert Schneider, Tel. 0234/701307, E-Mail: hubert.schneider@rub.de
Redaktion: Jens Wylkop
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Politik
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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