Neue Ausgabe der Zeitschrift "Zeithistorische Forschungen"
Fragen der Religion und des Glaubens sind in der deutschen Öffentlichkeit auf widersprüchliche Weise präsent: Zu Weihnachten sind die christlichen Kirchen überfüllt; zu anderen Jahreszeiten dagegen wird vielerorts diskutiert, leerstehende Kirchenräume für profane Zwecke zu nutzen oder sie sogar abzureißen. Und während die Identifikation mit dem christlichen Glauben einerseits nicht mehr sonderlich stark ist, wird andererseits eine diffuse „christlich-jüdische Tradition“ beschworen, um den Islam in Deutschland zurückzudrängen.
Das neueste Heft der Zeitschrift „Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History“ (3/2010) zum Thema „Religion in der Bundesrepublik Deutschland“ setzt solchen Debatten fundierte historische Perspektiven entgegen.
Frühere modernisierungstheoretische Annahmen über einen langfristigen Trend der Säkularisierung, also den allmählichen Bedeutungsverlust religiöser Überzeugungen und Praktiken, sind nicht gänzlich falsch. Sie haben sich für die Bundesrepublik und auch für andere europäische Gesellschaften aber als zu eindimensional erwiesen. Statt eine im 20. und 21. Jahrhundert nach und nach abnehmende Religiosität zu unterstellen (und diese entweder zu begrüßen oder zu beklagen), ist aus zeithistorischer Sicht genauer nach dem Wandel des Religiösen sowie nach unterschiedlichen Ausdrucksformen in sozialen Gruppen und medialen Arenen zu fragen. Zwar hat die Bindung an Organisationsstrukturen und Milieus zumindest der beiden christlichen Großkirchen in der Tat nachgelassen, doch ist das Bedürfnis nach religiösen Sinnangeboten und Transzendenzerfahrungen vielfach weiterhin vorhanden. Die religionsgeschichtliche Forschung hat solche Dimensionen erst seit wenigen Jahren stärker aufgegriffen; das neue Themenheft von „Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History“ vertieft dieses Interesse an der Sozial-, Kultur- und Mediengeschichte der Religion mit Fallstudien.
Uta Andrea Balbier schildert die Auftritte des evangelikalen Predigers Billy Graham aus den USA, der in den 1950er- und 1960er-Jahren auch in der Bundesrepublik und in West-Berlin ein Massenpublikum zu mobilisieren verstand. Claudia Lepp zeigt, wie die evangelische und die katholische Kirche auf die Herausforderung durch die Neuen Sozialen Bewegungen reagierten: Beide Großkonfessionen nahmen inhaltliche Impulse und Artikulationsformen des Protests auf, taten dies aber in unterschiedlichem Maße. Tobias Freimüller erläutert am Beispiel der jüdischen Gemeinschaft in Frankfurt am Main, wie unselbstverständlich jüdisches Leben in der Bundesrepublik nach dem Holocaust zunächst war und wie es vor allem seit den 1980er-Jahren dennoch wieder an öffentlicher Präsenz gewann. Auch die muslimische Glaubenspraxis hat in der Bundesrepublik allmählich einen größeren Stellenwert erhalten – natürlich durch ganz andere historische Konstellationen. Bärbel Beinhauer-Köhler verfolgt die Entstehung sozialer und gebauter Räume des Islams in Deutschland; damit leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Versachlichung aktueller Moschee-Konflikte.
In der Debatten-Rubrik des Themenhefts diskutieren mehrere Autorinnen und Autoren neuere Ansätze der zeithistorischen Forschung zum Feld der Religionsgeschichte: die Aussagekraft der Säkularisierungsthese (Detlef Pollack), systemtheoretische und organisationssoziologische Perspektiven auf die christlichen Kirchen (Benjamin Ziemann), die zentrale Bedeutung von Medialisierungsprozessen (Frank Bösch) sowie das aus dem amerikanischen Kontext stammende Konzept der „Zivilreligion“ (Heike Bungert/Jana Weiß). Darüber hinaus regt Peter Bubmann an, das ab etwa 1960 aufgekommene „Neue Geistliche Lied“ als zeitgeschichtliche Quelle zu nutzen. Eva-Maria Schrage beschreibt eine Ausstellung über die neuere jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik, und in der Rubrik „Neu gelesen“ wird unter anderem Marilyn Fergusons Buch „Die sanfte Verschwörung“ vorgestellt (von Pascal Eitler) – ein Werk, das in der Bundesrepublik der 1980er-Jahre als „New-Age-Bibel“ populär wurde.
Am jetzt erschienenen Themenheft haben neben Expertinnen und Experten der Geschichtswissenschaft deshalb auch solche der Soziologie, der Religionswissenschaft und der Theologie mitgewirkt. Das Heft ist das Ergebnis einer produktiven Zusammenarbeit des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (http://www.zzf-pdm.de) und des Exzellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (http://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/).
„Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History“ wird am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (http://www.zzf-pdm.de) herausgegeben von Konrad H. Jarausch, Christoph Kleßmann und Martin Sabrow in Verbindung mit Zeitgeschichte-online (http://www.zeitgeschichte-online.de). Die Zeitschrift erscheint gedruckt im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht
(http://www.v-r.de) und zugleich im Open Access (http://www.zeithistorische-forschungen.de).
Bei redaktionellen Fragen wenden Sie sich bitte an:
Dr. Jan-Holger Kirsch
Zentrum für Zeithistorische Forschung
Redaktion Zeitgeschichte-online
Am Neuen Markt 1
D-14467 Potsdam
Tel.: ++49 (0)331/28991-18
E-Mail: kirsch@zeitgeschichte-online.de
Internet: http://www.zeithistorische-forschungen.de
Abonnements, Einzelhefte und Rezensionsexemplare sind erhältlich bei:
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Fax: ++49 (0)89/85853-62811
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Szene vor dem verhüllten Reichstag, Berlin 1995
Foto: Georg Schönharting/Ostkreuz
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Religion
überregional
Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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