Die „Sprachzentren“ in der linken Gehirnhälfte des Menschen sprechen und verstehen nicht nur Sprache, sondern sie sind auch für die Orientierung unserer Aufmerksamkeit im Raum zuständig. Das zeigen Wissenschaftler der Neurologischen Universitätsklinik Tübingen und des Hertie-Instituts für klinische Hirnforschung (HIH) in einer aktuellen Studie, die in der Zeitschrift Brain erschienen ist. Unsere sogenannten "Sprachzentren" sind also vielmehr "Sprach-„ und gleichzeitig „Aufmerksamkeitszentren". (Brain, advance online publication 30.05.2011).
Aufmerksamkeit ist bei Säugetieren, zum Beispiel auch beim Affen in beiden Gehirnhälften repräsentiert. Anders als bei den Affen bildete sich beim Menschen eine Sprachfunktion. Die bisherige Annahme der Wissenschaft: Durch die Entwicklung der Sprache beim Menschen in der linken Gehirnhälfte wurden die ehemals dort angesiedelten Funktionen – wie zum Beispiel die Aufmerksamkeit – verdrängt und in die rechte Gehirnhälfte verschoben.
Mit ihrer Arbeit konnten Julia Suchan und Prof. Dr. Dr. Hans-Otto Karnath von der Neurologischen Universitätsklinik und dem Hertie-Institut für klinische Hirnforschung zeigen, dass dies keineswegs so ist. Zwar hat die linke Gehirnhälfte in der Entwicklung vom Affen zum Menschen eine neue Funktion – die Sprache – erhalten, sie hat aber ihre alte Funktion – die Aufmerksamkeit – keineswegs ganz verloren. Offensichtlich ist unser Gehirn in der Lage, beide Funktionen in derselben Gehirnhälfte, ja sogar in denselben Regionen parallel zu verarbeiten.
Die Tübinger Wissenschaftler untersuchten rund 400 Menschen, die einen Schlaganfall der linken Gehirnhälfte erlitten hatten, um herauszufinden, ob diese neben den für diese Gehirnhälfte bekannten Sprachstörungen auch an Störungen der Raumorientierung litten. Neben Tests zur Untersuchung der räumlichen Aufmerksamkeit und Sprache machten die Wissenschaftler hochauflösende Magnetresonanztomographie-Aufnahmen von den Patienten. Dabei fanden sie heraus, dass einige Menschen tatsächlich an einer deutlichen Störung der räumlichen Orientierung nach Schädigung der linken Hemisphäre litten. Interessanterweise fand sich der Sitz dieser Funktion im Gehirn exakt im so genannten „Sprachzentrum“.
Alle diese Patienten mit Störungen der Raumorientierung litten gleichzeitig auch unter Sprachstörungen. „Wäre dies nicht der Fall, könnte man annehmen, dass die Funktionen beider Gehirnhälften bei diesen Personen einfach vertauscht sind,“ so Suchan und Karnath, „also die Raumorientierung links und die Sprache rechts sitzt. Das ist aber definitiv nicht der Fall. Im Gegenteil, beide Funktionen scheinen in derselben Gehirnhälfte und denselben Gehirnstrukturen verarbeitet zu werden.“
Originaltitel der Publikation: Spatial orienting by left hemisphere language areas: a relict from the past?
Autoren: Julia Suchan, Hans-Otto Karnath
Brain advance online publication 30.05.2011 (http://brain.oxfordjournals.org/content/early/2011/05/28/brain.awr120.full.pdf+h...): DOI: 10.1093/brain/awr120
Kontakte:
Universitätsklinikum Tübingen, Sektion Neuropsychologie,
Zentrum für Neurologie
Hertie-Institut für klinische Hirnforschung (HIH)
Prof. Dr. Dr. Hans-Otto Karnath
Tel.: 0 70 71/29-8 04 76 (Sekretariat), Fax: 0 70 71/29-59 57
E-Mail: Karnath@uni-tuebingen.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
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