Psychische Störungen sind in Europa zur größten gesundheitspolitischen Herausforderung des 21. Jahrhunderts geworden. Dies ist ein Hauptergebnis einer wissenschaftlichen Studie, die von dem Dresdner Psychologen Prof. Hans-Ulrich Wittchen geleitet und heute (5. September 2011) vom European College of Neuropsychopharmacology (ECNP) und dem European Brain Council (EBC) vorgestellt wurde.
Die Autoren stellen zudem dramatische Missstände in der Versorgung fest. Weniger als ein Drittel aller Betroffenen wird überhaupt behandelt, zumeist nicht im Einklang mit fachlichen Richtlinien. Rechnet man die neurologischen Erkrankungen noch dazu, ist das „wahre“ Ausmaß der gesellschaftlichen Belastung noch deutlich höher.
Angesichts steigender Lebenserwartung und der damit einhergehenden Zunahme von Alterserkrankungen werden konzertierte Aktionen in der klinischen Grundlagen- und der Versorgungsforschung gefordert, um Versorgung und Prävention zu verbessern und die gesundheits-ökonomische Belastung nachhaltig zu reduzieren.
Die Studienergebnisse (veröffentlicht in European Neuropsychopharmacology) basieren auf einer über drei Jahre durchgeführten Studie und beziehen sich auf alle 27 EU Staaten sowie Schweiz, Island und Norwegen mit einer Gesamt-Einwohnerzahl von 514 Millionen Menschen. Es wurden mehr als 100 unterschiedliche psychische und neurologische Krankheitsbilder berücksichtigt. Damit ist dies die weltweit erste Studie, die ein nahezu vollständiges Spektrum von psychischen und neurologischen Störungen umfasst. Die Studie liefert erstmals ein realistisches Bild zur Häufigkeit und Belastung psychischer Störungen für alle europäischen Länder sowie für Europa als Ganzes.
Die wichtigsten Hauptergebnisse:
- Jährlich leiden 38,2 Prozent aller Einwohner der EU (164,8 Millionen Menschen) unter einer klinisch bedeutsamen psychischen Störung.
- Psychische Störungen sind in allen Altersstufen ähnlich häufig und selbst unter Kindern und jungen Erwachsenen weit verbreitet.
- Die häufigsten Erkrankungsformen sind Angststörungen (14,0 Prozent der Gesamtbevölkerung), Schlafstörungen (7,0 Prozent), unipolare Depressionen (6,9 Prozent), psychosomatische Erkrankungen (6,3 Prozent), Alkohol- und Drogenabhängigkeit (> 4 Prozent), Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen (5 Prozent aller Kinder und Jugendlichen), und Demenzen (1 Prozent bei 60-65 Jährigen bis 30 Prozent bei Personen über 85 Jahren).
- Häufigkeit und Rangreihe der psychischen Störungen sind mit Ausnahme von Suchterkrankungen in allen Ländern ähnlich.
- Im Vergleich zu 2005 ergeben sich keine Hinweise auf eine Zu- oder Abnahme der Häufigkeit psychischer Störungen. Eine Ausnahme bildet, aufgrund der angestiegenen Lebenserwartung, eine Zunahme der Demenzerkrankungen. Ein in verschiedenen EU-Ländern häufig „wahrgenommener“ Anstieg ist nicht auf eine Zunahme der Erkrankungshäufigkeit, sondern auf verändertes Hilfesuch- und Therapieverhalten der betroffenen Patienten bzw. der behandelnden Einrichtungen zurückzuführen.
- Auch hinsichtlich der extrem niedrigen Behandlungsraten psychischer Störungen hat sich im Vergleich zu 2005 keine Veränderung gezeigt. Höchstens ein Drittel aller Betroffenen in der EU erhalten irgendeine Form professioneller Aufmerksamkeit oder eine Therapie.
- Die Behandlung startet meist erst Jahre nach Krankheitsbeginn und entspricht oft nicht den minimalen Anforderungen an eine adäquate Therapie.
- Zusätzlich zu den 38 Prozent der Einwohner, die an psychischen Störungen leiden, sind weitere Millionen Menschen in der EU von neurologischen Erkrankungen wie Schlaganfall, Morbus Parkinson oder Multipler Sklerose betroffen.
- Insgesamt ist die gesellschaftliche Belastung durch psychische Störungen – gemessen durch den Indikator „disability-adjusted life years (DALYs)” der Weltgesundheitsorganisation – bei weitem größer als die durch irgendeine andere Krankheitsgruppe (Krebs, Herzerkrankungen etc). Die Studie legt erstmals spezifisch für die EU entsprechende Zahlen vor und zeigt, dass psychische Störungen für 26,6 Prozent der gesellschaftlichen Gesamtbelastung durch Krankheiten in der EU verantwortlich sind.
- Die vier am stärksten belastenden Erkrankungen sind dabei: Depression, Demenzen, Alkoholabhängigkeit und Schlaganfall.
Die Studie identifiziert auch einige entscheidende Faktoren, die für den Status quo mitverantwortlich sind und in Hinblick auf eine verbesserte Forschung und Praxis verändert werden müssen:
- Die disziplinäre Fragmentierung in Forschung und Praxis hinsichtlich unterschiedlicher Berufsgruppen (z.B. Psychiater, Neurologen, Psychotherapeuten, Psychologen) sowie daraus resultierend verschiedene Konzepte in Forschung und Praxis sowie Diagnostik und Therapie.
- Die gesellschaftliche und politische Tendenz, psychische und neurologische Erkrankungen zu marginalisieren und zu stigmatisieren.
- Das weitverbreitete Unwissen in der Bevölkerung und in der Gesundheitspolitik bezüglich der verschiedenen Formen psychischer Störungen, ihrer Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten.
Die Autoren der Studie heben hervor: „Psychische Störungen sind kein seltenes Schicksal einiger Weniger. Das Gehirn als komplexestes Organ des Körpers ist genauso häufig wie der Rest des Körpers von „Störungen und Erkrankungen“ betroffen!“
Sie fordern: „Wir brauchen unmittelbare konzertierte Aktionen auf allen Ebenen - einschließlich einer erheblichen und der wahren Belastung entsprechenden Ausgabenerhöhung hinsichtlich der Grundlagen- und klinischen Anwendungs- und Versorgungsforschung. Ziel ist die verbesserte Aufklärung der Ursachen für psychische Störungen, um effektivere psychologische und medikamentöse Interventionen der Prävention und Therapie zu entwickeln, und so der Herausforderung zunehmender Belastungen durch psychische Störungen besser zu begegnen“.
Der Studienleiter Professor Hans-Ulrich Wittchen von der TU Dresden hebt zwei Forderungen hervor, die helfen sollen, psychischen Störungen als die Schlüssel-Herausforderung für unsere Gesundheitssysteme im 21. Jahrhundert zu bewältigen:
1. Das immense Ausmaß an Unter-, Fehl- und Mangelversorgung für die meisten psychischen Störungen muss beseitigt werden. Da viele psychische Störungen früh im Leben beginnen und – unbehandelt – massive negative Langzeiteffekte auf alle Lebensbereiche der Betroffenen haben können, müssen psychische Störungen früher und schneller nach ihrem erstmaligen Auftreten behandelt werden. Nur die gezielte und umfassende Frühintervention vor allem bei Jugendlichen kann einen exponentiell beschleunigten Anstieg der Häufigkeit Schwerstkranker und multimorbider Fallzahlen in Zukunft verhindern.
2. Wir müssen die komplexen Beziehungen der psychischen und neurologischen Erkrankungen untereinander beachten und erforschen. Anfänglich isolierte, relativ unkomplizierte psychische und neurologische Störungen führen unbehandelt oft zu vielfachen sekundären Erkrankungen, die wechselseitige Verstärkungen in der Krankheitsdynamik sowie eine erhebliche Mehrbelastung und massive Komplikation bedeuten. Wir brauchen Krankheits- und Versorgungsmodelle, die diese Entwicklungspfade über die gesamte Lebensspanne und für alle Erkrankungsgruppen berücksichtigen. Nur so kann es zu einem verbesserten Verständnis psychischer und neurologischer Störungen und einer effektiven Prävention und Therapie kommen.
Wittchen betont: „Das niedrige Problembewusstsein gekoppelt mit dem Unwissen über das wahre Ausmaß hinsichtlich Häufigkeit, Belastungen und Kosten psychischer Störungen in allen Gesellschaften und Schichten, ist das zentrales Hindernis für die Bewältigung dieser Herausforderung. Es bedarf einerseits einer deutlichen Erhöhung der nationalen und europäischen Forschungsbudgets um die Ursachen-, Präventions- und Behandlungsforschung zu intensivieren. Andererseits sind zusätzlich der Ausbau der Behandlungsressourcen für psychische Störungen und verbesserte Zuweisungsmodelle erforderlich, um die defizitäre Versorgungssituation unmittelbar zu verbessern.“
Die Studie wurde im Rahmen des Task Force Projektes des European College of Neuropsychopharmacology (ECNP) und des European Brain Council (EBC) zu „Größenordnung, gesellschaftliche Belastung und Kosten durch psychische und neurologische Erkrankungen in Europa 2010“ erstellt. Die Durchführung wurde finanziell unterstützt durch das European College of Neuropsychopharmacology (ECNP), das European Brain Council (EBC) sowie Lundbeck.
Informationen für Journalisten: Prof. Hans-Ulrich Wittchen, Tel. 0351 463 36985
E-Mail: wittchen@psychologie.tu-dresden.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
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