Der Sozialstaat verändert sich rasant – und zwar nicht nur durch neue Gesetze und veränderte Transfersysteme (Hartz IV, Rente mit 67 etc.), sondern auch aus seinem Inneren heraus, ohne dass darum in der Öffentlichkeit viel Aufhebens gemacht wird. Institutionen und Organisationen alter Prägung verschwinden, und das, was nach ihnen kommt, birgt zahlreiche Ungewissheiten. Auf diesen Tatbestand haben Fachleute bei der Jahrestagung der Sektion Sozialpolitik der Deutschen Gesellschaft für Soziologie am Institut für Sozialwesen der Universität Kassel hingewiesen.
„Vielfach lautet die Devise: kosteneffizientes Handeln, weniger Zeitaufwand, Beschränkung auf das Notwendige“, sagte Prof. Dr. Ingo Bode, der die Tagung in Kooperation mit dem Vorstand der Sektion ausrichtet. Nicht erst die aktuelle Schuldenkrise zwinge die Staaten Europas zum Sparen – in wohlfahrtsstaatlichen Versorgungssystemen gehe es schon länger darum, mehr aus knappen bzw. knapp gehaltenen Ressourcen herauszuholen. Die Wirkungen der dabei eingesetzten Instrumente auf die sozialstaatlichen Institutionen selbst – und damit auf deren Fähigkeit, den ihnen gesetzten Auftrag umzusetzen – seien allerdings in der öffentlichen Debatte bislang nur unzureichend beachtet worden.
Die Infrastruktur des Sozialstaats habe sich in den vergangenen Jahrzehnten massiv gewandelt, man könne vielleicht sogar von „stillen Revolutionen“ sprechen, betonte Bode. Besonders einflussreich sei dabei europaweit das Gedankengut des „New Public Management“ gewesen – und damit die Vorstellung, sozialstaatliche Einrichtungen könnten wie private Unternehmen geführt und eingesetzt werden. Wohlfahrtsverbände seien heute auf dem Weg zu Sozialkonzernen; Krankenkassen verstünden sich längst als Unternehmen am Versicherungsmarkt; und auch in Krankenhäusern, Schulen oder Einrichtungen der Jugendhilfe dominierten immer mehr die Maximen der marktorientierten Betriebswirtschaft.
Es gebe insgesamt noch zu wenig Wissen darüber, welche Folgen die Ausbreitung solcher betriebswirtschaftlicher Standards in sozialen Organisationen und bei Akteuren in der Praxis habe. „Stärker noch als Ausgabenbegrenzungen und Privatisierungen ist es dieser infrastrukturelle Wandel, der dem Sozialstaat ein neues Gesicht gegeben hat – und nur wenige befassen sich mit den Folgen dieses Prozesses“, kritisierte der Sozialforscher.
Oberflächlich betrachtet ginge es bei diesem Wandel um Kostenkontrolle und Kundenorientierung, sagte Bode. Wenn aber die Betriebswirtschaft die zentralen Impulse setze und beispielsweise kurzfristigen Unternehmenserfolg zum eigentlichen Credo mache, könne dies für die Leistungen des Sozialstaats als Ganzem nicht folgenlos bleiben. Eine am Markterfolg orientierte, betriebswirtschaftlich geführte Organisation werde beispielsweise immer geneigt sein, ihre Energien auf die Erzielung von Überschüssen zu konzentrieren oder unter Bedrängnis auf Schmalspurversorgung umzuschalten. Die eigentliche, gesetzlich definierte, Aufgabe sozialer, gesundheitsbezogener oder arbeitsmarktpolitischer Institutionen – nämlich die Bewältigung zählebiger sozialer Probleme, die Umsetzung basaler gesellschaftlicher Werte und die Sicherstellung einer flächendeckenden, qualitativ hochwertigen Versorgung – gerate dabei leicht aus dem Blick. Nicht zuletzt drohten dabei auch die demokratischen Grundlagen des Sozialstaats verloren zu gehen. Denn wenn etwa Bildungsträger oder soziale Einrichtungen ihre Adressaten nur noch als Kunden und sich selbst als Marktdienstleister betrachteten, ginge das Bewusstsein darüber verloren, wem solche Einrichtungen letztlich Rechenschaft schuldig sind – nämlich einem demokratischen Gemeinwesen, das den Einrichtungen des Sozialstaats gesellschaftspolitische Aufgaben erteilt und die Aufgabenerfüllung dabei stets unter Kontrolle behält.
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Info
Prof. Dr. Ingo Bode
Universität Kassel
FB 01 - Institut für Sozialwesen
Tel.: 0561/804-2923
E-Mail: ibode@uni-kassel.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Gesellschaft
überregional
Wissenschaftliche Tagungen
Deutsch
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