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30.09.2003 15:11

Wie viele Vorschulkinder brauchen tatsächlich eine Sprachförderung?

Dr. Gerhard Trott Medien und News
Universität Bielefeld

    Bedarfsanalyse am Beispiel der Stadt Bielefeld
    Bielefelder Studie räumt mit Vorurteilen auf

    Das schlechte Abschneiden bei der PISA-Studie hat den Ruf nach Sprachförderprogrammen in hohem Maße verstärkt. Dahinter steht die richtige und durch die Forschung belegte Einsicht, dass Kinder, die im Vorschulalter Sprachdefizite aufweisen, ein hohes Risiko haben, in der Schule Leseprobleme sowie globalere Lernschwierigkeiten auszubilden.

    Der Nutzen einer frühzeitigen Sprachförderung ist wissenschaftlich unbestritten. Denn wenn vorhandene Sprachdefizite rechtzeitig vor Schuleintritt kompensiert werden können, reduziert sich das Risiko nachfolgender schulischer Lernprobleme ganz erheblich.

    Die Eltern erwarten daher, dass ihre Kinder entsprechend gefördert oder therapiert werden. Demgegenüber wird immer wieder von Seiten der Kinderärzte moniert, dass zu früh, zu oft und zu lange therapiert werde. Der Leiter des Kinderneurologischen Zentrums in Bonn, Hans-Georg Schlack, führt dies darauf zurück, dass, wie er sagt, es außerordentlich schwierig sei zu diagnostizieren, wann eine normale Abweichung und wann eine krankhafte Störung vorliege.

    Am Lehrstuhl für Allgemeine und Angewandte Entwicklungspsychologie der Universität Bielefeld hat Professorin Hannelore Grimm mit ihren Mitarbeitern ein Sprachscreening für das Vorschulalter (SSV) entwickelt und normiert, das geeignet ist, eindeutig zu entscheiden, ob ein Kind eine Sprachtherapie braucht oder nicht. Dieses neue Screeningverfahren kann in 10 Minuten durchgeführt werden und eignet sich somit für ein flächendeckendes Untersuchungsvorgehen, was Hannelore Grimm am Beispiel der Stadt Bielefeld nachgewiesen hat.

    Sowohl für Deutschland wie auch international erstmalig wurden die Vorschulkinder einer Stadt diagnostisch erfasst, um herauszufinden, wie viele der Kinder sprachauffällig sind und einer Förderung oder Therapie bedürfen. Bielefeld eignet sich in besonderem Maße als Modellstadt, weil neben industriellen Zentren ländliche Gebiete vertreten sind und weil der Ausländeranteil hoch ist. Denn die Sprachkompetenz junger ausländischer Kinder stellt ein besonders wichtiges Thema dar.

    Im Februar und März 2003 wurden alle Tageseinrichtungen für Kinder in Bielefeld angerufen, deren Telefonnummer im Vorwahlbereich von Bielefeld liegt und die nicht heilpädagogisch arbeiten. Das Interesse der Erzieherinnen und Eltern war überwältigend groß und beweist damit deutlich, für wie wichtig das Thema Sprachentwicklung gehalten wird.

    Insgesamt haben acht sorgfältig geschulte Studentinnen innerhalb von sechs Monaten 1490 Vorschulkinder im Alter zwischen 4 und 6 Jahren (exakt: 4 Jahre bis 5 Jahre 11 Monate) mit dem neuen Sprachscreening untersucht. Von diesen Kindern konnten 1395 in die endgültige Auswertung übernommen werden.

    Professorin Hannelore Grimm fasst die Ergebnisse wie folgt zusammen:

    Von den 1395 Kindern erwiesen sich 836 als unauffällig. Das heißt, dass sie den Sprachtest bestanden haben. Alle anderen Kinder zeigten jedoch Sprachdefizite, so dass 59,9 % der untersuchten Vorschulkinder in Bielefeld eine normal entwickelte Sprachkompetenz zeigen, 40,1 %
    jedoch davon abweichen.

    Das ist eine enorm große Zahl, die man so nicht erwartet hätte und die deshalb genauer zu durchleuchten ist. Was steckt dahinter? Wenn man zunächst die 40,1 % sprachlich auffälligen Kinder genauer differenziert, so zeigt sich, dass davon 15,9 % Defizite sowohl im syntaktischen wie auch im phonologischen Bereich zeigen. Das sind diejenigen Kinder, wie auch in der Literatur belegt, die die tatsächliche Risikogruppe der eindeutig sprachdefizitären Kinder darstellen. Es sind diejenigen Kinder, die mit großer Wahrscheinlichkeit später Leseprobleme und andere schulische Schwierigkeiten ausbilden.

    Demgegenüber können die Kinder, die nur in einem Bereich, also dem syntaktischen oder phonologischen, den Kritischen Normwert nicht erreicht haben, als Verdachtskinder bezeichnet werden. Sie sollten allerdings im weitern Entwicklungsverlauf im Blick behalten werden.
    Die Gesamtgruppe der Kinder muss zweitens für ein besseres Verständnis in deutschsprachige und in nicht-deutschsprachige Kinder aufgeteilt werden. Denn tatsächlich sind allein 25 % der Kinder an der Gesamtstichprobe nicht deutschsprachig.

    Der Vergleich zwischen der Gruppe der deutschsprachigen Kinder (1014 Kinder) und der Gruppe der nicht deutschsprachigen Kinder (347 Kinder) zeigt folgendes bedeutsames Ergebnis: Bei der ersten Gruppe sind 70,5 % der Kinder sprachlich normal entwickelt, so dass nur noch knapp 30 % Auffälligkeiten zeigen. Von diesen 30 % können wiederum nur 9,7 % der Kinder als echte Risikokinder identifiziert werden. Das ist ein Prozentsatz, der mit nationalen wie internationalen Daten übereinstimmt.
    Bei der Gruppe der ausländischen Kinder dreht sich dann das Blatt quasi um: Über 60 % der Kinder zeigen sprachliche Auffälligkeiten, wobei der Anteil der echten Risikokinder allein 34,5 % beträgt, also mehr als dreimal so viel wie bei den deutschsprachigen Kindern. Bedenkenswert ist, dass der Anteil sprachlich im Normbereich liegender Kinder mit 28 % am niedrigsten liegt.

    Die vorschulischen Einrichtungen, an denen die Untersuchungen erfolgt sind, unterscheiden sich zum Teil ganz erheblich darin, wie groß der Anteil nicht deutschsprachiger Kinder ist. Deshalb wurden zusätzlich die standardisierten Sprachleistungen derjenigen Kinder verglichen, die eine Einrichtung mit niedrigem (unter 20 %) bzw. hohem (größer als 70 %) Ausländeranteil besuchen.

    70 % der Vorschulkinder (sowohl deutsche wie ausländische Kinder) erreichen danach die kriterialen Normwerte, wenn der Ausländeranteil sehr gering ist. Dies ist bei nur 40 % der Kinder der Fall, wenn der Ausländeranteil extrem hoch ist. Sehr wichtig bleibt dabei zu beachten, dass die beobachteten Unterschiede in den Sprachleistungen bei den ausländischen Kindern sehr viel deutlicher als bei den deutschen Kindern ausgeprägt sind. Oder anders formuliert: Ausländische Kinder, die eine Einrichtung mit geringem Ausländeranteil besuchen, haben geringere Sprachprobleme als ausländische Kinder in Einrichtungen mit hohem Ausländeranteil. Dabei sind die Sprachprobleme im syntaktischen Bereich sehr viel ausgeprägter als im phonologischen, wobei die syntaktischen Probleme sehr eng mit Wortschatzproblemen zusammenhängen.

    Da sich bei deutschsprachigen Kindern keine signifikanten
    Leistungsunterschiede in den verschiedenen Einrichtungen zeigen, kann geschlossen werden, dass die Sprachentwicklung der deutschsprachigen Kinder auch bei hohem Ausländeranteil nicht negativ beeinflusst wird. Damit dürfte ein wichtiges Vorurteil ausgeräumt sein.

    Bei allen unseren Vergleichen konnten keine bedeutsamen Unterschiede zwischen den Sprachfähigkeiten von Mädchen und Jungen gefunden werden. Auch dieses Vorurteil, dass Mädchen eine höhere Sprachkompetenz als Jungen haben, sollte damit endgültig vom Tisch sein. Tatsächlich zeigen sich zwar bei sehr kleinen Kindern geschlechtsspezifische Unterschiede, die aber im dritten Lebensjahr nicht mehr nachweisbar sind.

    Welche Konsequenzen sind aus diesen Befunden zu ziehen?

    Die erste Konsequenz muss sein, dass sprachdiagnostische Untersuchungen in vorschulischen Einrichtungen zum Regelfall werden, um betroffene Kinder zu identifizieren. Ohne eine zuverlässige und aussagefähige Diagnose kann keine begründete therapeutische Entscheidung fallen.

    Die zweite Konsequenz ist, dass auf die Tatsache reagiert werden muss, dass immerhin fast 10 % der deutschsprachigen Kinder keine normal entwickelte Sprachkompetenz aufweisen. Diese Kinder müssen logopädisch oder sprachheilpädagogisch behandelt werden.

    Die dritte Konsequenz ist, dass darauf zu reagieren ist, dass sehr viele Ausländerkinder die deutsche Sprache nur sehr unzureichend beherrschen. Mit Förderprogrammen muss erreicht werden, dass diese Kinder sprachlich aufholen können, damit sie bei der Einschulung fit für das Lernen sind.

    Kontakt: Universität Bielefeld, Abteilung Psychologie, Prof. Dr. Hannelore Grimm, Telefon 0521/106 4500, 06221/471759, E-Mail: hgrimm@uni-bielefeld.de.

    Pressemitteilung Nr. 163/2003
    Universität Bielefeld
    Informations- und Pressestelle
    Dr. Gerhard Trott
    Telefon: 0521/106-4145/4146
    Fax: 0521/106-2964
    E-Mail: gerhard.trott@uni-bielefeld.de
    Internet: www.uni-bielefeld.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft, Pädagogik / Bildung, Politik, Psychologie, Recht
    überregional
    Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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