idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
09.03.2004 08:43

Studie zum Verhalten der Brandenburger während der Judenverfolgung im Dritten Reich

Ilka Seer Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Freie Universität Berlin

    Über die Schrecken der NS-Zeit in der deutschen Hauptstadt ist schon vieles bekannt. Wie aber verlief die Geschichte in der umliegenden Region Brandenburg? Bislang fand dieser Aspekt kaum Beachtung in der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Antisemitismus im Dritten Reich. Eine kürzlich an der Freien Universität Berlin erschienene Dissertation schließt nun diese Lücke. Die Historikerin Edda Weiß untersucht den Verlauf und die Entwicklung der nationalsozialistischen Judenverfolgung in den Jahren 1933 bis 1945 und wie die brandenburgische Bevölkerung sich dazu verhielt. Die Wissenschaftlerin kommt zu dem Schluss, dass das Verhältnis der Brandenburger zu den Juden von latentem Antisemitismus, moralischer Gleichgültigkeit und der egoistischen Angst vor dem nationalsozialistischen Regime geprägt war. Diese Mischung war gefährlich: Das ausgrenzende und diskriminierende Verhalten der Brandenburger entstand nicht plötzlich oder aus einer Ideologie heraus. Vielmehr liegt dem eine schleichende Entwicklung zugrunde, die oft durch persönliche Interessen gefördert wurde. Auch finanzielle und materielle Faktoren spielten bei der Ausgrenzung der Juden eine Rolle: Vor allem die Brandenburger, die von den Maßnahmen des NS-Regimes profitierten, arrangierten sich am leichtesten mit antijüdischen Maßnahmen. Diese "schreckliche Toleranz", in die die beschriebene moralische Indifferenz mündete, ermöglichte erst die gesellschaftliche Isolierung und Verdrängung der Juden in Brandenburg und ihre störungsfreie Deportation.

    Eine Besonderheit in der Region liegt darin, wie die Brandenburger ihr Selbstverständnis gewannen. Sie definierten sich vor allem über die Abgrenzung vom jüdisch konnotierten, benachbarten Berlin. Daher erklärt sich ein Charakteristikum des Antisemitismus in Brandenburg: die Großstadtfeindlichkeit, die sich in einer heftigen Agitation gegen ortsfremde Juden äußerte, die etwa als Kurgäste, potentielle Erwerber oder Besitzer von Grundeigentum oder Insassen von jüdischen Einrichtungen wie Heimen oder Landwerken auftraten. Das Klischee des "Großstadtjuden" war jahrzehntelang die Projektionsfigur großstadtfeindlicher Propaganda in der Region.

    Die in der Provinz ansässigen Juden reagierten unterschiedlich auf ihre zunehmende Ausgrenzung und Diskriminierung. Vor allem politisch konservative Juden bemerkten erst spät die Gefahr, die von der nationalsozialistischen Gefahr ausging. Die antijüdische Gesetzgebung gaukelte den Betroffenen immer wieder eine mögliche Stabilisierung der Verhältnisse vor. Der unkontrollierte, in unberechenbarer Art und Weise ausbrechende und punktuell einsetzende Terror erschien ihnen oft weit bedrohlicher als die Gesetze. Ihr Kompromisscharakter hielt das Rechtsvertrauen der Betroffenen aufrecht und ermöglichte ihnen, sich mit den Verhältnissen zu arrangieren. Laut Volkszählung lebten im Mai 1939 noch 4.019 Juden. Demnach hatte mehr als die Hälfte der im Juni 1933 gezählten Juden die Provinz verlassen. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung hatte sich somit von 0,3 auf 0,1 Prozent verringert. Vor allem in ländlichen Gemeinden weitab von Berlin betrug die Abwanderungen als Folge der starken Boykottbewegung zwischen achtzig und neunzig Prozent. Für die Juden stellte Auswanderung die einzige Alternative zur Verarmung dar, die durch die immer stärker werdende Ausgrenzung drohte. Im Jahr 1938 war nach dem Novemberpogrom die verbliebene ökonomische Existenzgrundlage der brandenburgischen Juden binnen weniger Monate vernichtet.

    Besonders in den ländlichen Gegenden Brandenburgs wurde die Radikalität der Verfolgung bis 1938 noch stark vom antisemitischen Engagement eines einzelnen Ortsgruppenleiters oder Bürgermeisters und dementsprechend auch von materiellen und persönlichen Motiven beeinflusst. Ein Hauptagitationsfeld der antisemitischen brandenburgischen Basis bildete die Boykottbewegung ortsansässiger jüdischer Geschäfte. Für antijüdische Gewalttaten war nur eine relativ kleine Anzahl von Aktivisten verantwortlich. Diese Minderheit bekam jedoch Rückendeckung von einer weit größeren Zahl von Brandenburgern, deren Antisemitismus zwar diszipliniert, in seinen Zielsetzungen aber letztendlich nicht minder radikal war.

    Etliche Brandenburger verurteilten oder lehnten die Terrorakte und Boykottaktionen ab, die parallel laufende gesetzliche Ausgrenzung rief kaum Kritik seitens der brandenburgischen Bevölkerung hervor. Vor allem in konservativen Kreisen fand das Regime und seine Führungsfiguren eine allgemeine Akzeptanz. Gleichzeitig hielt das Risiko, als "Judenfreund" gebrandmarkt und diffamiert zu werden, sowie die zunehmenden Denunziationen im privaten Bereich viele Brandenburger davon ab, offen Kritik am Terror gegen die Juden auszuüben oder sich mit ihnen zu solidarisieren.

    Der Überwachungsdruck allein erklärt jedoch nicht die passive und gleichgültige Haltung der Mehrheitsbevölkerung. Ihre Ursache ist in einem verbreiteten, latenten Antisemitismus zu suchen, der sich zunächst in einer ambivalenten Haltung etlicher Brandenburger zu den antijüdischen Maßnahmen des Regimes äußerte und in eine wachsende Ignoranz gegenüber dem Schicksal der jüdischen Bevölkerung mündete.

    Hinzu kommt, dass viele Brandenburger von antijüdischen Maßnahmen materiell und finanziell profitierten. Sie übernahmen "arisierte" Geschäfte, beschäftigten jüdischen Zwangsarbeiter oder erwarben günstig freigewordene Häuser und Wohnungen. In dieses materialistische Bild fügen sich die Reaktionen der Brandenburger nach dem Novemberpogrom 1938. Kritik der Brandenburger bezog sich nicht, im Gegensatz zu anderen Regionen, auf humanitäre Aspekte, sondern war fast völlig auf die Zerstörung von Sachwerten reduziert. Die Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern führte nicht nur dazu, dass das gewalttätige Vorgehen der Parteiorganisationen toleriert wurde, sondern sogar zu einer partiellen Zustimmung zu den Pogromen und dazu, dass sich etliche Brandenburger aktiv daran beteiligten, indem sie plünderten und sich des jüdischen Eigentums bemächtigten.

    von Gesche Westphal

    Literatur:
    Edda Weiß, Die nationalsozialistische Judenverfolgung in der Provinz Brandenburg 1933-1945, Berlin: Verlag für Wissenschaft und Forschung, 2003

    Weitere Informationen erteilt Ihnen gern:
    Dr. Edda Weiß, Tel. 030 / 322 56 71, E-Mail: rherwig@debitel.net


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft
    überregional
    Forschungsergebnisse, Forschungsprojekte
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).