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Wissenschaft
Personalverantwortliche von Unternehmen haben mit dem Arbeitsrecht weniger Probleme als Kritiker und manche standardisierten Umfragen nahelegen. Insbesondere spielt der Kündigungsschutz für Personaler bei der Entscheidung über Neueinstellungen keine wesentliche Rolle. Das ist ein zentraler Befund eines Projekts am Zentrum für Personalforschung der Universität Hamburg. "Im Vordergrund stehen bei Neueinstellungen und Entlassungen wirtschaftliche Erwägungen, nicht juristische Hemmnisse", resümieren Prof. Dr. Florian Schramm und Prof. Dr. Ulrich Zachert. Die Hamburger Forscher stellen die Endergebnisse ihrer Studie auf dem 6. Hans-Böckler-Forum zum Arbeits- und Sozialrecht vor, das heute und morgen in Berlin stattfindet.
Die interdisziplinäre Untersuchung kombiniert 40 Tiefeninterviews, die mit Personalverantwortlichen geführt wurden, und eine repräsentative quantitative Befragung in 750 Betrieben. Dadurch kann die von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie realitätsnäher als standardisierte Befragungen beschreiben, wie Arbeitsrecht in der Praxis angewendet wird. So stoßen die Forscher auch auf widersprüchliche Aussagen bei einem Teil der Befragten: Sie äußerten zwar Reformwünsche, doch diese seien "zu relativieren", so die Wissenschaftler. Denn offenbar messen ihnen die Befragten selbst keinen hohen Stellenwert bei. Im Großen und Ganzen sei das Arbeitsrecht "in der Praxis weit weniger konfliktbehaftet als es zum Beispiel juristische Fachbeiträge nicht selten unterstellen. Überwiegend bereitet seine Anwendung keine signifikanten Schwierigkeiten."
Die Ergebnisse der Hamburger Untersuchung (weitere Informationen unter dem Link am Fuß dieser PM) bestätigen eine ältere Befragung von 2000 Personalern durch das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung. Auch dabei zeigte sich: Egal, wie Personalverantwortliche über den Kündigungsschutz denken und welche konkreten Erfahrungen sie damit gemacht haben - ihr Einstellungsverhalten beeinflusst das nicht. Entscheidend für die Schaffung neuer Jobs ist die wirtschaftliche Situation des Unternehmens.
Mehr als 400 Fachleute aus Rechtswissenschaft, Rechtsprechung und Rechtsberatung nehmen am 6. Hans-Böckler-Forum teil. Zwei weitere wichtige Themen der Tagung sind Sozial(plan)tarifverträge bei Standortverlagerungen sowie die Tarifeinheit im Betrieb. Zu beiden Fragen wird in den kommenden Wochen das Bundesarbeitsgericht urteilen.
=> Sozial(plan)tarifverträge
In einem Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung kommt Prof. Dr. Rüdiger Krause, Arbeitsrechtler an der Universität Göttingen, zu dem Ergebnis, dass Gewerkschaften einen Sozial(plan)tarifvertrag aushandeln können, um die Folgen einer Standortverlagerung für die Beschäftigten wirtschaftlich abzufedern. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der Fall des AEG-Hausgerätewerkes in Nürnberg. Die Vorschriften über einen betrieblichen Sozialplan nach dem Betriebsverfassungsgesetz entfalten keine Sperrwirkung gegenüber einer tariflichen Regelung. Die Verhandlungen über einen Sozial(plan)tarifvertrag und einen betrieblichen Sozialplan können grundsätzlich nebeneinander geführt werden.
Ein Sozial(plan)tarifvertrag kann auch durch einen Arbeitskampf durchgesetzt werden, so Prof. Dr. Krause. Ein Streik sei lediglich "ausnahmsweise dann rechtswidrig, wenn offenkundig ist, dass es der Arbeitnehmerseite trotz formaler Beschränkung auf die Regelung der sozialen Folgen um die Verhinderung der Standortverlagerung in einem Fall geht, in dem die unternehmerische Entscheidung selbst druckfrei erfolgen darf." Diese Freiheit hat der Unternehmer nach Einschätzung des Arbeitsrechtlers, "wenn durch die räumliche Veränderung ein neuer Markt erschlossen werden soll oder die bisherige Produktionsstätte nachweislich unrentabel geworden ist". In diesem Fall sei auch ein direkt gegen die Standortverlagerung gerichteter Streik unzulässig. "Dagegen ist ein Streik rechtmäßig, wenn das Unternehmen floriert und die Verlagerung des Standorts lediglich dazu dient, zur Steigerung des Betriebsergebnisses `teure´ gegen `billige´ Arbeitnehmer auszutauschen."
Auch aus der europarechtlichen Niederlassungsfreiheit ergäben sich keine zusätzlichen Schranken gegenüber Streiks, die sich gegen eine grenzüberschreitende Standortverlagerung richten beziehungsweise mit denen ein Sozial(plan)tarifvertrag durchgesetzt werden soll. (Einen Link zum kompletten Thesenpapier von Prof. Dr. Krause finden Sie am Fuß dieser PM)
=> Tarifeinheit
Die Tarifvertragslandschaft wird unübersichtlicher, zeigt eine Expertise von Prof. Dr. Thomas Dieterich. Einerseits schließen neben den großen DGB-Gewerkschaften kleine christliche sowie Spartengewerkschaften Tarifverträge ab, so dass in manchen Betrieben verschiedene Tarifverträge gelten, die zwar die gleichen Fragen regeln, aber für unterschiedlich tarifgebundene Arbeitnehmer (Tarifpluralität). Andererseits sind in manchen Betrieben die Arbeitnehmer gleichzeitig an kollidierende Tarifverträge gebunden, etwa durch Verbands- und Firmentarifvertrag oder nach einem Betriebsübergang (Tarifkonkurrenz). Angesichts dieser Vielfältigkeit stellen sich immer wieder Fragen: Welcher Tarifvertrag gilt für wen? Welche Regelung hat Vorrang, wenn juristische Kollisionen auftreten? Braucht es allgemeine Vorrangregelungen?
Der frühere Präsident des Bundesarbeitsgerichts Prof. Dr. Dieterich plädiert dafür, Tarifpluralität und Tarifkonkurrenz deutlich voneinander zu unterscheiden, "weil sie nicht mit den gleichen rechtlichen Instrumenten und Formeln zu lösen sind".
Im Fall der Tarifpluralität gilt die Grundregel, dass Tarifverträge nur für die jeweiligen Mitglieder der abschließenden Gewerkschaft rechtlich bindend sind. Bei nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern kann ein Auslegungsproblem entstehen, wenn in deren Arbeitsverträgen pauschal auf Tarifverträge verwiesen wird. Doch welcher Tarifvertrag damit gilt, "ob dann der speziellere, der günstigere oder der repräsentativere gemeint ist, hängt von der Vertragsgestaltung und den Begleitumständen ab. Für eine Einheitsregel, die alle denkbaren Fallgestaltungen erfasst, besteht kein Bedürfnis", schreibt Prof. Dr. Dieterich.
Regulierungsbedarf bestehe bei Tarifpluralität dort, wo Gesetze eine Verzahnung tariflicher und betrieblicher Regelungsformen anstreben: bei den Betriebs- und Betriebsverfassungsnormen sowie bei Tarifvorbehalt und Tarifvorrang (§§ 77 III, 87 I BetrVG). In solchen Kollisionsfällen ist nach Auffassung des Rechtswissenschaftlers "bei der Wahl zwischen konkurrierenden unterschiedlichen Tarifverträgen auf die größere Repräsentativität der beteiligten Tarifvertragsparteien abzustellen." Repräsentativer ist die Tarifvertragspartei, die mehr Mitglieder im Unternehmen hat, "unter Umständen sei sie auch aus dem Anteil der Betriebsratsmitglieder" abzuleiten.
Grundsätzlich anders beurteilt Prof. Dr. Dieterich das Kollisionsproblem bei Tarifkonkurrenz, wenn also beispielsweise ein Verbands- und ein Firmentarifvertrag mit derselben Gewerkschaft abgeschlossen wurden. In solchen Fällen entschied die Rechtssprechung bisher nach dem "Spezialitätsprinzip" und gab dem "spezielleren" Vertrag den Vorrang, also etwa dem Firmentarifvertrag. Als Kollisionsregel passe dieses Prinzip jedoch nur dann, wenn die Kollision durch die identische Gewerkschaft selbst herbeigeführt wurde, betont Prof. Dr. Dieterich. Sei sie hingegen durch gesetzliche Schutzvorschriften hervorgerufen (etwa durch eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung ohne Öffnungsklausel), hänge die Auswahl vom Zweck des Gesetzes ab. Unter Umständen helfe auch hier das Kriterium der Repräsentativität.
http://www.boeckler.de/cps/rde/xchg/hbs/hs.xsl/320_85267.html - PM mit Ansprechpartnern und Links zu den Thesenpapieren der Forscher
http://www.boeckler.de/cps/rde/xchg/hbs/hs.xsl/510_30593.html - Weitere Forschungsergebnisse zu Kündigungsschutz und Arbeitsrecht
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Gesellschaft, Politik, Recht, Wirtschaft
überregional
Forschungs- / Wissenstransfer, Forschungsergebnisse
Deutsch
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