Zur Akademievorlesung Wintersemster 2000/2001 "Gemeinwohl und Gemeinsinn"
Seit Ende des kalten Krieges ist in allen Ländern Europas ein bemerkenswerter Wandel der politischen Leitbegriffe festzustellen: Politiker, Interessenverbände und Intellektuelle berufen sich auf das Gemeinwohl als legitimer Orientierung politischen Handelns. So wird die Forderung nach einer Reform des Wohlfahrtsstaates mit den Erfordernissen des Gemeinwohls begründet. Politische und gesellschaftliche Akteure signalisieren damit, daß bessere, allgemein verträglichere und nachhaltigere Lösungen gesellschaftlicher Probleme nicht nur notwendig, sondern auch möglich sind, wenn sich nur der Blick gesellschaftlicher Gruppen von ihrer Fixierung auf die nächstliegenden Interessen und allzu kurzfristige Lösungsstrategien lösen würde.
Das in der politischen Sprache der Gegenwart verstärkt zu Wort kommende Begriffspaar Gemeinwohl und Gemeinsinn wirft die Frage auf, wieviel Orientierung am allgemeinen Wohl Bürgern und Interessenvertretern abzuverlangen und zuzumuten ist.
Mit den Akademievorlesungen zu "Gemeinwohl und Gemeinsinn" präsentiert die gleichnamige interdisziplinäre Arbeitsgruppe der Akademie ihre Forschungsergebnisse zu diesem im öffentlichen Interesse stehenden Thema.
Zur Vorlesung am 23.11.2000
Die politischen Effekte, die unter Berufung auf das Gemeinwohl erzielt werden, sind ambivalent: Einerseits haben sich Herrscher und Machthaber unter Berufung auf das von ihnen verkörperte Gemeinwohl immer wieder gegen Demokratisierungsbestrebungen zur Wehr gesetzt, andererseits sind Monarchen (wie Karl I. von England) mit der Begründung gestürzt und hingerichtet worden, das Amt des Königs sei dem Gemeinwohl abträglich. Offenbar ist der Gemeinwohlbegriff nicht durch Rekurs auf seine in der Geschichte des politischen Denkens entwickelten Definitionen zu klären, sondern muß in seinen jeweiligen semantisch-rhetorischen Verwendungskontexten ausgeleuchtet werden. Wenn 'Gemeinwohl' aber eine Variable der politisch-strategischen Sprache ist - taugt es dann noch als tragfähige Leitidee moderner Politik? Es soll gezeigt werden, daß gerade diese hohe Flexibilität Gemeinwohlvorstellungen parallel zum Bedeutungsverlust des klassischen Nationalstaates politiktheoretisch attraktiv macht. In modernen Gesellschaften sind Gemeinwohlformeln weniger autoritäre Verpflichtungen der Bürger zu größerer Opferbereitschaft als Selbstbindungen politischer Akteure.
Zum Referenten
Herfried Münkler ist Professor für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin, Sprecher der interdisziplinären Arbeitsgruppe "Gemeinwohl und Gemeinsinn" an der Akademie und Gründungsmitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
Weitere Vorlesungen in der Reihe:
23. November 2000
Herfried Münkler
Gemeinwohlsemantiken und Selbstbindungen in der Politik
14. Dezember 2000
Hans Joas
Ungleichheit in der Bürgergesellschaft - Über einige Dilemmata des Gemeinsinns
25. Januar 2001
Hasso Hofmann
Verfassungsrechtliche Annäherungen an den Begriff des Gemeinwohls
15. Februar 2001
Birger P. Priddat
Über Modernisierung des Gemeinwohls: Temporäre Netzwerke und 'virtual communities'
Information on participating / attending:
Date:
11/23/2000 20:00 - 11/23/2000
Event venue:
Vortragssaal im Akademiegebäude am Gendarmenmarkt, Ort
Jägerstraße 22/23
10117 Berlin
Berlin
Germany
Target group:
Journalists, all interested persons
Email address:
Relevance:
transregional, national
Subject areas:
Types of events:
Entry:
11/14/2000
Sender/author:
Renate Nickel
Department:
Kommunikation
Event is free:
unknown
Language of the text:
German
URL of this event: http://idw-online.de/en/event2764
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