Sie hießen Amazone, Augousta, Thekla oder Stephanis und gehörten zu den zehn Prozent weiblichen Ärzten unter christlichen Medizinern der Antike. Überhaupt genoss diese Berufsgruppe wider bisherigen Annahmen ein hohes Ansehen im Alten Rom. Doch mit der Erkenntnis, dass der Wissenstransfer von der Antike ins Mittelalter in besonderem Maße durch christliche Ärzte erfolgte, stellt PD Dr. Christian Schulze nun den bisherigen wissenschaftlichen Konsens in Frage. In seiner Habilitationsschrift (Institut für Geschichte der Medizin, Prof. Dr. Irmgard Müller) greift er auf eine bisher nicht gekannte Quellenfülle - vor allem auf Grabinschriften - zurück.
Bochum, 27.07.2005
Nr. 237
Von antiken Arztehepaaren...
... und Ärzten, die nebenberuflich Bischöfe waren
Perspektivwechsel: Christen als Vermittler antiken medizinischen Wissens
Sie hießen Amazone, Augousta, Thekla oder Stephanis und gehörten zu den zehn Prozent weiblichen Ärzten unter christlichen Medizinern der Antike. Überhaupt genoss diese Berufsgruppe wider bisherigen Annahmen ein hohes Ansehen im Alten Rom. Doch mit der Erkenntnis, dass der Wissenstransfer von der Antike ins Mittelalter in besonderem Maße durch christliche Ärzte erfolgte, stellt PD Dr. Christian Schulze nun den bisherigen wissenschaftlichen Konsens in Frage. In seiner Habilitationsschrift (Institut für Geschichte der Medizin, Prof. Dr. Irmgard Müller) greift er auf eine bisher nicht gekannte Quellenfülle - vor allem auf Grabinschriften - zurück.
Aufbauhilfe und Vermittlerdienste haben Tradition
Die westliche Welt verdanke die Kenntnis der griechischen Philosophie und Medizin vorwiegend den in Spanien aktiven Muslimen - so die landläufige Meinung der Wissenschaft. Dr. Christian Schulze hinterfragt diese Hypothese: Braucht ein Nomadenvolk bei der Sesshaftwerdung nicht erst einige Generationen für den Aufbau einer sozialen und kulturellen Infrastruktur, bevor Wissen vermittelt, rezipiert und übersetzt werden kann? Mit seinen Ergebnissen kann er die Lücke schließen: "Jene jahrhundertelange Durchdringung von Medizin und christlicher Theologie bildete eine Tradition, durch die fast nahtlos anschließend Orientchristen, vor allem Nestorianer, geprägt waren und aus der sie nach wie vor schöpfen". Schulze sieht im Zurückgreifen auf "Aufbauhilfe und Vermittlerdienste" auch Parallelen zwischen frühem Christentum, das sich etwa mit der heidnischen Schulbildung arrangierte, und der aufstrebenden arabischen Welt.
Dreimal so viele Ärzte wie Bäcker in der Antike?
Mit insgesamt 190 Funden in griechischen, lateinischen und koptischen Inschriften, vor allem Grabinschriften, sowie in Papyri und in der antiken Literatur ersetzt die Arbeit alle bisherigen Quellenzusammenstellungen. Auf dieser Basis stellt Christian Schulze eine Zahl von 150 sicher bezeugten christlichen Ärzten heraus. Keine andere Berufsgruppe ist mit auch nur annähernd so vielen Inschriften vertreten. Das Spektrum der Berufe reicht vom Anwalt über Fischteichbesitzer, Glaser, Kleiderhändler, Lehrer oder Marmorarbeiter bis hin zu Pantomime Redner, Schmied, Seilläufer, Tierarzt, Wagenlenker und Zuckerbäcker. Für einen konkreten Vergleich mit den Ärzten wählt Dr. Schulze die Bäcker aus - auch sie zählten zu den nicht verbotenen bzw. tabuisierten Berufsgruppen, zudem hat das Brot im christlichen Umfeld eine besondere Bedeutung - und kommt zu einem Verhältnis von etwa 3:1 zwischen christlichen Ärzten und Bäckern.
Heidnische Medizin und christliche Theologie eng verwoben
So vielfältig wie die medizinische Tätigkeit war auch das christliche Engagement der Ärzte. Neben der Schar "einfacher" Christen, über deren Gemeindetätigkeit die Geschichtsschreibung schweigt, werden hohe Amtsträger benannt: Allein anhand der Inschriften finden sich vier Diakone, ein Erzdiakon, zwei Presbyter, ein Levit, ein Mönch und ein Abt. Auch literarische und auf Papyri erhaltene Erwähnungen belegen die Durchdringung von Christentum und Medizin und erwähnen mehrere Bischöfe und Mönche, etwa Eusebius von Rom, Gregor den Wundertäter oder Theodotus von Laodicea. Auch war der Arztberuf im frühen Christentum keineswegs verpönt und schloss nicht von der Taufe aus, sonst hätte der 210 geborene Gregor Thaumaturgos wohl kaum die Bischofswürde erlangen können. Für das hohe Ansehen des Arztberufes sprechen auch die damalige Beliebtheit der Metapher "Arzt" (Gott als Seelenarzt, Krankheit als Strafe der Sünden) und die frühe Aufnahme der Medizin in den Reigen der enzyklopädischen Fächer und damit in den Bildungskanon.
Nicht "Arztgattin" - sondern "echte medica"
Dass es sich bei der weiblichen griechischen Berufsbezeichnung Archiatrina (lateinisch: medica) auf den Grabinschriften nicht um eine auch hierzulande lange übliche Anrede der Arztgattin als "Frau Doktor" handelt, weist Christian Schulze etwa am Beispiel der Augousta nach: Hatte doch kein Dritter, sondern der Ehemann selbst die Inschrift angefertigt, und es wird ausdrücklich mitgeteilt, dass Augousta als Archiatrina den Körpern vieler Kranker ein Heilmittel gegeben habe. Schulze erklärt das verstärkte Auftreten von christlichen Ärztinnen als ein Ausweichphänomen von den für Frauen mehr und mehr verloren gehenden Kirchenämtern in eine verwandte, vollwertige Berufstätigkeit. Offenbar konnte diese "Emanzipation" aber nicht bis ins Mittelalter überdauern, denn es ist keine weibliche Übersetzerin bekannt, die am Wissenstransfer aus der Spätantike beteiligt war.
Titelaufnahme
"Medizin und Christentum in Spätantike und frühem Mittelalter", Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2005
Weitere Informationen
PD Dr. Christian Schulze, Tel.: 02334-442645, E-Mail: christian.schulze@rub.de
Criteria of this press release:
History / archaeology, Medicine, Nutrition / healthcare / nursing
transregional, national
Research results, Scientific Publications
German
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