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08/01/2005 14:39

"Weltatlas der Sprachstrukturen" erschienen

Dr. Andreas Trepte Abteilung Kommunikation
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.

    Leipziger Max-Planck-Forscher präsentieren einzigartige Dokumentation
    der weltweiten Sprachenvielfalt / Ausmaß an Grammatikentlehnung
    zwischen Sprachen überraschend

    Grammatik ist eine trockene und komplizierte Materie, und die Vielfalt
    der unterschiedlichen Lautstrukturen und Satzbaumuster in den
    Sprachen der Welt ist so groß, dass kein einzelner Wissenschaftler den
    Überblick behalten kann. Doch zu einem tieferen Verständnis der
    menschlichen Sprachfähigkeit ist gründliches Wissen über
    Sprachunterschiede und Sprachuniversalien unabdingbar. Eine
    Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie
    hat nun ein monumentales Werk vorgestellt, das bisherige Forschungen
    tausender Einzelsprachforscher in völlig neuartiger Form zugänglich
    macht: Den "Weltatlas der Sprachstrukturen", der auf 142 farbigen
    Weltkarten die geografische Verteilung von sprachlichen
    Strukturvariablen auch für Laien anschaulich zeigt. Mitgeliefert wird eine
    interaktive CD-ROM, mit deren Hilfe der Benutzer eine Vielzahl von
    Hypothesen überprüfen und eigene Karten generieren kann. Dieser
    Datenschatz wird die vergleichende Sprachwissenschaft auf eine neue
    Grundlage stellen. Schon jetzt zeichnet sich eine überraschende
    Erkenntnis ab: Strukturmerkmale sind viel stärker geografisch bedingt
    als bisher angenommen.

    Von den etwa 7.000 zur Zeit noch gesprochenen Sprachen sind 2.560 im "Weltatlas der
    Sprachstrukturen" vertreten, allerdings pro Weltkarte "nur" durchschnittlich 400. Das liegt daran, dass nur
    ein paar hundert Sprachen wirklich gut beschrieben sind, während wir von den übrigen bisher nur
    fragmentarische oder gar keine Kenntnisse haben. 6.800 Quellen wurden von einem 50-köpfigen
    Autorenteam unter der Leitung von Prof. Dr. Martin Haspelmath, Dr. David Gil und Prof. Dr. Bernard
    Comrie (in Zusammenarbeit mit Prof. Matthew Dryer, University at Buffalo) ausgewertet. Auf den
    Karten des Atlasses herrscht Gleichberechtigung: Jede Sprache, egal wie viele Sprecher sie hat, wird
    durch ein Kreissymbol dargestellt. Für die Sprachwissenschaftler sind kleine, zum baldigen Aussterben
    verurteilte Sprachen ebenso interessant wie die großen Nationalsprachen.
    Der Atlas gibt Auskunft über verschiedenste Strukturvariablen, z.B. Anzahl der Konsonanten (zwischen 6
    und 122), Vorhandensein von seltenen Lauten wie ö und ü, Unterscheidung von Tönen,
    Genus-Kategorien, Pluralbildung, Anzahl der Kasus, Zukunfts- und Vergangenheitsformen am Verb,
    Imperativ, Wortstellung, Passivkonstruktionen, Zahlwörter, Farbadjektive, Schriftsysteme.
    Für einige gut beschriebene Variablen, wie z.B. die Wortstellung (Verb-Objekt oder Objekt-Verb,
    Adjektiv-Substantiv oder Substantiv-Adjektiv), zeigen die Karten mehr als tausend Sprachen. Über die
    Art der Relativsatzbildung dagegen sind Informationen schwerer zu bekommen, so dass die
    entsprechenden Karten nicht einmal zweihundert Sprachen zeigen. Die beiden Karten zur grammatischen
    Struktur von Gebärdensprachen in aller Welt zeigen nur 35 Sprachen, da die vergleichende Erforschung
    von Gebärdensprachen erst in den Kinderschuhen steckt.
    Fast auf jeder Karte sticht sofort ins Auge, dass die geografische Verteilung nicht zufällig ist. Sprachen
    mit ö und ü kommen praktisch nur im nördlichen Eurasien vor (von Paris bis Peking), aber nicht südlich
    des Himalaya. Die komplexen Laute gb und kp gibt es nur in West- und Zentralafrika. Sprachen mit
    Wortstellung Substantiv-Genitiv ("das Haus des Vaters") kommen in Afrika, Europa, Südostasien und
    Mittelamerika vor, während sonst die Wortstellung Genitiv-Substantiv ("des Vaters Haus") überwiegt. In
    den Sprachen Eurasiens und des nördlichen Afrikas sagt man durchweg "Ich gebe ihm das Essen",
    während in Australien und Amerika die Struktur "Ich gebe ihn mit Essen" verwendet wird.
    Dies ist ein überraschendes Ergebnis. Seit ihrer Begründung im 19. Jahrhundert hat die vergleichende
    Sprachwissenschaft Ähnlichkeiten zwischen Sprachen in erster Linie auf gemeinsame Abstammung aus
    einer rekonstruierten Ursprache zurückgeführt. Die Karten des Weltatlas der Sprachstrukturen zeigen nun
    deutlich, dass die Struktureigenschaften weitgehend geografisch homogen sind, d.h. dass Sprachen viele
    Gemeinsamkeiten mit benachbarten Sprachen haben, die nicht unbedingt mit ihnen verwandt sind. So
    zeigt etwa das Hindi, das mit den germanischen, romanischen und slawischen Sprachen in Europa
    verwandt ist - alle gehen auf eine indoeuropäische Ursprache zurück, die vor etwa 6000 Jahren
    gesprochen wurde - frappierende Ähnlichkeiten mit dem (nicht verwandten) Tamil und anderen Sprachen
    der dravidischen Sprachfamilie in Südindien. Und das Finnische gleicht seinen (nicht verwandten)
    Nachbarsprachen Schwedisch und Russisch viel mehr als seinen entfernten Verwandten in Sibirien.
    Solche Gemeinsamkeiten müssen auf Übernahme von Strukturmustern aus benachbarten Sprachen
    beruhen. Dass überall Wörter aus Nachbarsprachen entlehnt werden, ist seit langem hinlänglich bekannt,
    aber das Ausmaß der Grammatikentlehnung ist überraschend. Die Mechanismen solcher Entlehnungen
    sind noch nicht ausreichend bekannt und stellen eine Herausforderung für die zukünftige Forschung dar.
    Auch für die Erforschung der grundlegendsten kognitiven, möglicherweise auch teilweise angeborenen
    Strukturen der menschlichen Sprachfähigkeit sind die Daten des Atlasses von großer Bedeutung. Viele
    der beobachteten sprachlichen Universalien bestehen in Korrelationen zwischen logisch unabhängigen
    Variablen. Bislang ist viel über solche Korrelationen gemutmaßt worden, aber die Datenbasis war
    meistens zu dünn für zuverlässige Schlußfolgerungen. Die auf der interaktiven CD-ROM mitgelieferte
    Datenbank erlaubt es dem Benutzer jetzt, beliebige Variablen miteinander zu verknüpfen und nach
    Korrelationen zu suchen.


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    Criteria of this press release:
    Language / literature, Social studies
    transregional, national
    Research results, Transfer of Science or Research
    German


     

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