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07/06/1999 10:17

Wissenschaftler fordern: Wieder Sozialpolitik statt Verbändepolitik

Dr. Thomas Pleil Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt

    35 Soziologen, Ökonomen, Politologen und Psychologen sind sich einig: In seiner bisherigen Form ist der Sozialstaat ein Auslaufmodell. Einig sind sich die Wissenschaftler aber auch darin, daß der Sozialstaat auch in Zukunft seinen Platz haben muß und daß er deshalb weiterentwickelt werden sollte. Die Rezepte hierfür sind allerdings unterschiedlich. Insgesamt fordern mehrere Wissenschaftler jedoch, daß Politiker wieder intensiver Sozialpolitik betreiben und den Einfluß von Wirtschaft und Interessenvertreter in diesem Gebiet zurückdrängen sollten. Dies zeigt der jetzt erschienene Tagungsband zu der interdisziplinären Fachtagung "Der Sozialstaat zwischen Markt und Hedonismus", die Ende Februar an der Katholischen Universität stattgefunden hatte. Zentrale Frage der Veranstaltung war, ob der traditionelle bundesdeutsche Sozialstaat zerrieben wird zwischen der (Wieder-)Durchsetzung einer rein marktorientierten Wirtschafts- und Sozialpolitik einerseits, die Staatseinflüsse möglichst gering halten möchte und unsolidarischem, egoistischem Handeln von Gesellschaftsmitgliedern andererseits, das sich "Sozialer Devianz", also in Schwarzarbeit, Leistungsmißbrauch und/oder Steuerhinterziehung niederschlägt.

    Entsprechend der sozial- und wirtschaftspolitischen Positionen reichen die Veränderungsvorschläge der Wissenschaftler vom Erhalt des subsidären Sozialstaats - der allerdings zu reformieren sei - bis hin zu einem Umbau in einen "Kernsozialstaat", der nur gegen die Risiken "Arbeitslosigkeit" und "Armut" sichern soll. Als Reformvorschläge, die den subsidären Sozialstaat erhalten sollen, wurden z. B. eine effektive Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik, Lohnzurückhaltung, mehr Sozialpartnerschaft, Besteuerung von Sozialeinkommen ohne Einkommensprüfung (Arbeitslosengeld), einer Rahmenordnung für die internationalen Kapitalbewegungen und eine Einwanderungspolitik diskutiert.

    Beim zweiten Problem, der Sozialen Devianz", zeigten volkswirtschaftliche Vergleiche in den OECD-Staaten, daß Schwarzarbeit als verbreitetste Form des Mißbrauchs des Sozialstaats in den neunziger Jahren international an Bedeutung gewonnen hat. Da sich die Experten von schärferen Strafen kaum eine Veränderung erwarten, schlagen sie eine Legalisierung der Tätigkeiten in der Schwarzarbeit vor. Die Nachfrage nach preisgünstigerer Arbeit bestehe. Daher solle Arbeit billiger werden, so daß Tätigkeiten in der Schwarzarbeit in neue legale Arbeitsplätze überführt werden können. Neben sinkenden Abgaben wurden auch Zuschüsse der Arbeitsämter diskutiert. Im Bereich der Steuergesetzgebung zeigen Modellrechnungen, daß nicht restriktive Maßnahmen, sondern in erster Linie ein niedrigerer Grenzsteuersatz die Bereitschaft zur Steuerhinterziehung deutlich senkt. Eine solche Senkung der Steuern ist für den Staat unterm Strich billiger als besonders intensive Kontrollen zur Aufdeckung von Steuerhinterziehung.

    Deutlich fordern die Wissenschaftler außerdem, daß wieder aktiv Sozial- und Wirtschaftspolitik betrieben werden müsse. Die Politik müsse das Feld des "Sozialen" wieder gewinnen und die gegenwärtige Dominanz der (Interessen) Verbände und der Wirtschaft zurückdrängen. Zu wünschen sei, daß die Politik wieder agiere anstatt passiv zu reagieren, zum Beispiel durch eine "effektive Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik", die die "mangelnde Beschäftigungsorientierung" überwindet oder durch eine "experimentelle Sozialpolitik" auf kommunaler Ebene (etwa mit neuen Teilzeitarbeitskonzepte und nicht-staatlichen Agenturen) oder durch eine Wettbewerbsstrategie, die Innovation und Bildungsverbesserung anstrebt. Allerdings bedürfe es für einen "Neubau" einer politischen Mehrheit und einer ausreichenden öffentlichen Resonanz - und dies sei momentan kaum gewährleistet.

    Als besonders dringende Herausforderungen für den Sozialstaat sehen die Forscher Arbeitslosigkeit und Armut. Gefordert werden Bündnisse für Arbeit bis auf Betriebsebene sowie eine intelligente Mischung verschiedener Vorgehensweisen, da einzelne Arbeitsmarkt-Instrumente überfordert seien. Für abhängig Beschäftigte, so die Forscher, treten an Stelle dauerhafter, unbefristeter Vollzeitbeschäftigung mehr und mehr Teilzeitarbeit, flexible Arbeitszeiten und ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse in den Vordergrund. Eine besondere Gefahr entstehe, wenn Phasen der Nichtbeschäftigung nicht zu beenden sind: Gerade Langzeit- und Mehrfacharbeitslose drohen ihre gesellschaftliche Einbindung zu verlieren. Arbeitslose und Arme weisen im Vergleich mit Erwerbstätigen ein überproportional hohes Suchtrisiko (bei Alkohol, Nikotin, psychoaktiven Medikamenten) und eingeschränkte Behandlungsschancen auf, vor allem, wenn sie wohnsitzlos geworden sind. Entscheidende Barrieren für Therapieerfolge und Rehabilitation seien der Mangel an geeignetem Wohnraum für Einkommensschwache und die schlechte Arbeitsmarktlage: Arbeitslosigkeit provoziert erneute Sucht.

    Der Tagungsband "Der Sozialstaat zwischen 'Markt' und 'Hedonismus'"? wurde von Siegfried Lamnek und Jens Luedtke in der neuen Reihe Otto-von-Freising-Tagungen der Katholischen Universität Eichstätt herausgegeben (Verlag Leske+Budrich, Op-laden, 496 Seiten, 48 Mark, ISBN 3-8100-2320-5).

    Weitere Informationen:
    Dr. Jens Luedtke
    jens.luedtke@ku-eichstaett.de
    Telefon 08421/93-1665


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    Criteria of this press release:
    Economics / business administration, Law, Politics
    transregional, national
    Scientific Publications
    German


     

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