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07/11/1995 00:00

Neuronale Netzwerke

Bernt Armbruster Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Universität Kassel

    Forschungsgruppe Neuronale Netzwerke: Von Depressionen, Bachlaeufen und Aktienkursen

    Kassel. Depressionen und Schizophrenie, Aktienkurse und Verkaufsprognosen oder gar das Fliessen von Baechen sind Themen, die man kaum im Fachbereich Mathematik/ Informatik suchen wuerde. Tatsaechlich sind sie dort, bei der Forschungsgruppe Neuronale Netzwerke an der Universitaet Gesamthochschule Kassel, sehr gut aufgehoben. Schliesslich sind kuenstliche Neuronale Netze bestens geeignet, individuell gepraegte Muster zu erkennen, zu klassifizieren und darauf zu reagieren. Und da die Kasseler Forschungsgruppe sowohl aus Mathematikern als auch aus Informatikern besteht, koennen sie fuer das Neuronale Netz nicht nur die notwendigen mathematischen Lernregeln entwickeln und ihm diese beibringen, sondern auch die praktischen Anwendungen realisieren.

    Der Traum von der kuenstlichen Intelligenz

    Mit Neuronalen Netzen kommen Informatiker dem Traum von kuenstlicher Intelligenz ein bisschen naeher. Bei dieser Arbeit laesst sich der Informatiker von der menschlichen, bewussten Intelligenz leiten und versucht sie nachzuahmen. Schachprogramme imitieren menschliche Entscheidungsprozesse in groben Zuegen und sind ein Beispiel fuer klassische kuenstliche Intelligenz. Dabei werden aus typisch menschlicher Sichtweise Regeln und Fakten im Computer abgelegt und entsprechend der Aufgabenstellung angewendet

    Aber es gibt noch einen anderen Weg, Computern das "Denken" beizubringen. Hier dient das Nervensystem hoeher entwickelter Lebewesen und dessen elementare Vorgaenge bei der Informationsverarbeitung als Vorbild: Es ist der Versuch, die Ablaeufe innerhalb und zwischen den Nervenzellen (Neuronen) fuer den Computer nachzumodellieren. Dieses Forschungsfeld wird an der GhK im Fachbereich Mathematik / Informatik von der "Forschungsgruppe Neuronale Netzwerke" (FGNN) unter Leitung von Prof. Dr. Heinrich Werner seit 1989 bearbeitet.

    Neuronale Netzwerke

    Die bisher entwickelten kuenstlichen Neuronalen Netze (KNN) sind hoechstens mit der Intelligenz niederer Tiere vergleichbar. Und doch haben sie laengst den Forschungs- und Experimentalbereich verlassen und sind auf dem Weg zur praktischen Anwendung. Dank einiger bemerkenswerter Eigenschaften eignen sich KNN sehr gut fuer eine Vielzahl von Aufgaben, die bisher von klassischen Verfahren nur sehr unflexibel oder gar nicht geloest wurden: Besonders dann, wenn die Aufgaben sehr komplex sind und /oder stark individuell gepraegte Muster ( z. B. Sprache) oder verrauschte und dadurch schwer identifizierbare Daten vorliegen. KNN benutzen ein einfaches mathematisches Modell fuer die biologischen Neuronen im realen Gehirn. Diese Modellneuronen bilden, aehnlich wie beim natuerlichen Vorbild, ein komplexes Netz, bei dem spezielle Eingabe-Neuronen die zu analysierenden Muster entgegennehmen; an den Ausgabe-Neuronen kann nach der Analyse die Antwort des Neuronalen Netzes abgelesen werden. Die Art und Staerke der Verbindung zwischen den Modell-Neuronen kann veraendert werden, wodurch KNN lernen koennen. Neuronale Netze werden regelrecht trainiert, wobei die Eigenschaften der Verbindungen angepasst werden. Es kommt so zu empirischem Lernen, bei dem sich das Netz ausschliesslich aufgrund von Beobachtungen auf eine bestimmte Aufgabe einstellt. Erreicht wird dieses Lernen durch mathematische Lernregeln, die als Programme auf konventionellen Computern dafuer sorgen, dass die Neuronalen Netze selbstorganisiert die gewuenschte Aufgabe lernen. Hierzu werden, sozusagen als erster Unterricht, den Netzen Beispiele und Musterloesungen vorgegeben. Das tatsaechliche Netzverhalten kann dann von einem "Lehrer" ueberprueft werden: Dieser teilt dem Netz bei jeder Ausgabe mit, welche Fehler es gegenueber der gewuenschten Ausgabe gemacht hat und mit dieser Hilfe kann sich das Netz verbessern. Doch ein "Lehrer" ist nicht immer notwendig, es funktioniert auch autodidaktisch: Hierbei passen sich die Neuronalen Netze autonom durch eine Art Gewoehnung den gestellten Aufgaben und Beobachtung an. Der vollstaendige Lern-Vorgang in Neuronalen Netzen ist - genau wie beim natuerlichen Vorbild - langsam und schwierig, denn es gibt mitunter Rueckschlaege. Die Kasseler Neuro-Informatiker wuenschen sich daher leistungsfaehigere konventionelle Computer bzw. eine neuronale Spezial-Hardware, um dadurch die langen Trainingszeiten etwas zu reduzieren. Doch einmal fertig austrainiert, arbeiten Neuronale Netze auch auf konventionelle Computersystemen sehr schnell.

    Medizin-Technik

    Ein gegenwaertig betriebenes Projekt der Kasseler Forschungsgruppe wendet Neuronale Netzwerke in der Medizin-Technik, bei ihren "grossen Bruedern", den menschlichen Gehirnzellen, an. Es ist eine sehr komplexe Erkennungsaufgabe, wenn die kuenstlichen "kleinen grauen Zellen" die Signale ihrer natuerlichen Vorbilder analysieren sollen. Das Elektro-Enzephalogramm (EEG) erlaubt es, die elektrischen Aktivitaeten der Nervenzellen im Gehirn zu registrieren. Die erhaltenen Signale koennen dann fuer die Diagnose oder Grundlagenforschung untersucht werden. Dabei reicht die Beobachtungsdauer von wenigen Sekunden, wie bei Momentaufnahmen innerhalb psychologischer Tests, bis hin zu mehreren Stunden, wie bei einer Aufzeichnungen waehrend einer ganzen Nacht im Schlaflabor. Diese Signale sind hochkomplex, die Auswertung entsprechend schwierig: 100 Milliarden Neuronen im menschlichen Hirn erzeugen ueber 100 Billionen Synapsen-Verbindungen. Dies muss man sich so vorstellen: Verteilte man entsprechend viele Telefone auf die gesamte Menschheit, so bekaeme jeder 20 Apparate, mit denen er unmittelbar mit mehr als 20.000 Partnern gleichzeitig telefonieren wuerde. Die ersten EEG's wurden bereits 1929 durch Hans Berger in Jena gemessen, aber trotz grosser technischer Fortschritte gleicht die EEG-Analyse immer noch dem Versuch, aus der Geraeuschkulisse eines Fussballspiels auf dessen genauen Verlauf zu schliessen. Bei einem derart komplexen Forschungsgebiet spielt der internationale Austausch eine wichtige Rolle.

    So ist die Kassler Forschergruppe in das BIOMED-Projekt ANNDEE (Artificial Neural Networks for the Diagnosis of EEGs) der Europaeischen Union eingebettet. Darin untersuchen europaeische Spezialisten aus unterschiedlichen Disziplinen die Anwendungsmoeglichkeiten Neuronaler Netze bei der EEG-Auswertung - und derer gibt es viele. So reichen die Forschungen von der Untersuchung der Auswirkung pharmakologisch wirksamer Substanzen ueber die Schlaf-Forschung, die Diagnose-Unterstuetzung bei Epilepsien, Depressionen und Psychosen bis hin zu ersten Planungen fuer Verbindungen zwischen dem menschlichen Gehirn und einem Computer, dem Brain-Computer-Interface (BCI).

    Psychose oder Depression? Speziell in der medizinischen Grundlagenforschung und der Diagnose setzt die GhK-Gruppe erfolgreich Neuronale Netze zur Unterscheidung depressiver und psychotischer Patienten ein. In der medizinischen Praxis koennte eine objektive und schnelle Diagnose der Gehirnaktivitaet eine wertvolle Hilfe sein, da mitunter voellig unterschiedliche psychologische Erkrankungen sehr aehnliche bis gleiche aeusserliche Symptome zeigen. Aber auch den umgekehrten Weg fuer die medizinische Grundlagenforschung gehen Werner und seine Mitarbeiter: die Ursachen von Erkrankung im menschlichen Gehirn durch eine intensive Analyse des kuenstlichen Neuronalen Netzes zu erkennen. Die EEG- Daten erhalten die Kasseler von spezialisierten medizinischen Instituten in Europa. Das setzt aufgrund der schwachen Signalen nicht nur bei den Medizinern eine grosse Erfahrung bei der Aufnahme voraus, es erfordert auch besonders leistungsfaehige Aufzeichnungsgeraete sowie speziell abgeschirmte Raeume. Diese Daten gelangen dann ueber Daten-Netze oder Datentraeger zu den Neuro-Informatikern in der Kasseler Universitaet, die damit die kuenstlichen Neuronalen Netze trainieren und schliesslich testen.

    Bei dem Training der Netze gibt es verschiedene Schwerpunkte. So ist es wichtig, dass die Netze aufgrund der Fehlertoleranz die Faehigkeit erlangen, auf unbekannte Daten verallgemeinernd zu reagieren. Doch dies ist nicht einfach, denn durch die Art, mit der die Daten aufgenommen werden, treten haeufig elektrische Stoersignale auf, die die Auswertung erschweren. Aber auch das Gehirn selbst produziert zusaetzliche EEG-Signale, die etwa fuer die gewuenschte Diagnose "depressiv" oder "psychotisch" irrelevant sind - denn nur psychotisch oder depressiv ist ein Gehirn halt nicht. Die Faehigkeit zu verallgemeinern ist vor allem dann gefordert, wenn etwa Messungen von neuen, dem Netz unbekannten Personen diagnostiziert werden sollen. Wie fruehere Untersuchungen in der FGNN zeigen, sind EEG-Daten oft - wie ein Fingerabdruck - stark individuell gepraegt. Unabhaengigkeit von Personen ist daher ein schwieriges Problem, das aber langfristig zu ueberwinden sein wird. Im Gegensatz zur Spracherkennung - wo es von der Phonetik bis hin zur Grammatik ein umfassendes Regelwerke mit festen Grundbestandteilen (Silben, Worte) gibt - ist das Wissen ueber die Grundbestandteile der EEG-Daten noch keineswegs gleich weit entwickelt. Hier koennen dann Neuronale Netze ohne "Lehrer" als selbstaendige "Merkmals-Sucher" eingesetzt werden, die die Signale nach charakteristischen relevanten und irrelevanten Teilmustern durchsuchen. Interessant ist diese Art von Analyse auch deswegen, weil sie unbelastet von wissenschaftlichen Vorurteilen stattfinden kann. Denn die spezielle Kenntnis eines menschlichen EEG-Auswerters kann dazu fuehren, dass nur nach bekannten Mustern Ausschau gehalten wird. Man verspricht sich daher von einem "unabhaengigen" Auswerter neuartige Charakterisierungen des EEGs, die neue Einsichten fuer die Analyse durch den menschlichen Experten ermoeglichen.

    Doch bis zum klinischen Einsatz von kuenstlichen Neuronalen Netzen bei der Untersuchung und Unterscheidung psychischer Erkrankungen ist es noch sehr weit. Naehere Ziele fuer den praktischen Einsatz liegen dagegen im Bereich der Auswertung von Schlafprofilen, die bisher eine zeitaufwendige und somit auch teure Aufgabe fuer einen EEG-Auswerter darstellt. Neben dem Ziel, konventionelle Schlafprofile aus den EEG- Auswertungen nachzubilden soll dann der Schlaf neu klassifiziert und definiert werden, um schliesslich Schlafprofile auf Erkrankungen hin auswerten zu koennen.

    Weitere Einsatzgebiete

    Auch in anderen Anwendungsbereichen sind fuer die Wissenschafter im Fachbereich Mathematik/ Informatik die bisher gesammelten praktischen Erfahrungen aus der Analyse der komplexen EEG-Daten von Nutzen. So wird beispielsweise gemeinsam mit Bauingenieuren die Modellierung von Fliessgewaessern mit Hilfe Neuronaler Netze untersucht, waehrend die Wirtschaftswissenschaftler sich eher fuer gemeinsame Forschungen interessieren, mit denen Boersenkurse oder Verkaufzahlen von Zeitungen prognostiziert werden koennen. Aber auch genetische Algorithmen bearbeiten die Neuronalen Netzwerker, in diesem Fall gemeinsam mit dem Kasseler Wissenschaftlichen Zentrum fuer Umweltsystemforschung, das an der Simulation natuerlicher Prozesse und menschlicher Einfluesse darauf interessiert ist. Darueberhinaus gibt es Projekte im Bereich der industriellen Qualitaetssicherung.

    Bei den verschieden moeglichen Anwendungsbereichen von KNN ist eine interdisziplinaere Zusammenarbeit mit Experten anderer Sparten unabdingbar. Intensive Auseinandersetzungen fuehren dazu, das bereits vorhandene Fachwissen aller Beteiligten bestmoeglich in den Ansatz der Neuronalen Netze zu integrieren. Kommunikationsfaehigkeit ist hier in besonderem Masse gefragt, muss doch oft zunaechst eine Bruecke zwischen den verschiedenen Disziplinen mit ihren unterschiedlichen Denkweisen und Fachbegriffen geschlagen werden. Die Wissenschaftler haben beim Einsatz solch innovativer Ansaetze wie KNN zudem eine besondere Verantwortung: So darf die Begeisterung fuer das neue Verfahren und deren Moeglichkeiten nicht dazu verleiten, dieses als Universalwerkzeug fuer alle Probleme zu verstehen und alles andere damit ersetzen zu wollen. Eine korrekte Einschaetzung der vorhandenen und moeglichen Vor- und Nachteile ist somit fuer die breite Akzeptanz und den Gesamterfolg wesentlich. Daher werden Neuronale Netze durch klassische, nicht-neuronale, mathematische Methoden unterstuetzt, deren spezifische Eigenschaften die Faehigkeit der noch jungen Technologie begleiten, ergaenzen und erweitern koennen.

    Auch Genetischen Algorithmen, vergleichbar dem Prozess der Selektion und Anpassung, und ebenfalls aus der Biologie entlehnt, erlauben, Systeme nach bestimmten Eigenschaften hin zu "zuechten". Neuronale Netze sind somit eine wichtige Komponente in einem oft hybriden (zusammengesetzen) Gesamtsystem.

    Innerhalb der Universitaet bietet sich mit der FGNN eine Moeglichkeit fuer Student(inn)en, in einem innovativen, anspruchsvollen Forschungsgebiet mitzuarbeiten, welches sich durch eine grosse Anwendungsnaehe auszeichnet. Nicht nur Studierenden des Diplom-Studiengangs Mathematik mit Schwerpunkt Informatik steht diese Moeglichkeit offen, sondern im Rahmen eines neuen Aufbaustudienganges Diplom-Informatik zukuenftig auch "Quereinsteigern" aus dem Ingenieurbereich sowie Absolventen von Fachhochschulen. Der Fachbereich Mathematik / Informatik stellt sich dabei bewusst seiner Aufgabe, bei Anwendungsproblemen mit Informatikbezug als unabhaengiger, fachlicher Ansprechpartner zu fungieren. Damit wird nicht zuletzt auch speziell die Region Nordhessen in der technischen Weiterentwicklung unterstuetzt.

    Fuer naehere Informationen steht zur Verfuegung: Universitaet Gesamthochschule Kassel Fachbereich Mathematik / Informatik (FB 17) FG Neuronale Netzwerke, 34109 Kassel, Tel.: (0561) 804 - 4376, Fax.: (0561) 804 - 4244, Internet: http://www.hrz.uni-kassel.de/fb17/neuro, e-mail: fgnn-info@neuro.informatik.uni-kassel.de


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