(München) Schmerzforscher sehen dem menschlichen Gehirn dabei zu, wenn es Schmerz empfindet und verarbeitet. Sie sehen auch, was sich im Zentralorgan verändert, wenn chronische Schmerzen seinen "Besitzer" quälen. Bildgebende Verfahren haben begonnen, die Schmerzforschung zu revolutionieren. Sie liefern nicht nur neue Erkenntnisse für ein besseres Verständnis des Phänomens Schmerz, sondern werden auch die Schmerztherapie voranbringen. Unter dem Motto "Netzwerk Schmerz" diskutieren rund 2000 Experten auf dem Deutschen Schmerzkongress in München aber auch neue Erkenntnisse von Molekularbiologen, Physiologen und Psychologen, um die Schmerzen von Millionen Menschen besser lindern zu können.
Kann man Schmerzen sichtbar machen? "Die Antwort lautet eindeutig Ja", erklärt Privatdozent Dr. Thomas Tölle, Neurologe am Klinikum rechts der Isar der TU München. Tölle, einer der beiden Präsidenten des Deutschen Schmerzkongresses, untersucht im Verbund mit Nuklearmedizinern und Anästhesisten der TU was im Gehirn geschieht, wenn dort ein Schmerzreiz eintrifft.
Möglich ist dies beispielsweise mit Hilfe der sogenannten Positronen-Emissions-Tomographie (PET), einem Verfahren, das physiologische und biochemische Prozesse im Gehirn sichtbar macht. So wissen die Forscher inzwischen, dass schmerzhafte Reize in verschiedenen Arealen des Gehirns verarbeitet werden. Eine Gruppe von Nervenzellen (Neuronen) bewertet beispielsweise, ob ein Signal die Schmerzschwelle überschreitet. Eine zweite Gruppe in einer anderen Gehirnregion ist für die Verarbeitung der Schmerzintensität, eine dritte Gruppe für die emotionale Komponente des Schmerzes zuständig.
Untersuchungen von Wissenschaftlern aus Tübingen und Bochum mit anderen bildgebenden Verfahren, die ebenfalls auf dem Deutschen Schmerzkongress vorgestellt werden, zeigen, dass chronische Rückenschmerzen oder Phantomschmerzen die Repräsentation genannte "Spiegelung" des betroffenen Körperteils in der Großhirnrinde verändern. Ebenso ist inzwischen klar, dass Dauerschmerzen dazu führen, dass sich die Verarbeitung von Schmerzsignalen und damit verknüpften anderen Sinnesreizen in Rückenmark und Gehirn verändert.
Dr. Arne May von der Universität Regensburg berichtet ebenfalls auf dem Deutschen Schmerzkongress, dass bei dem sehr seltenen, aber extrem schmerzhaften Clusterkopfschmerz jeweils ganz bestimmte Hirnstrukturen "arbeiten". Bei Attacken von Cluster-Kopfschmerz sind Areale aktiv, die den Schlaf-Wach-Rhythmus und andere zirkadiane Rhythmen steuern. Dieser körpereigene Zeitgeber, die "innere Uhr", könnte vermutlich bei den Betroffenen generell verändert und somit das Triggerorgan für die uhrwerkartig auftretenden Kopfschmerzattacken sein.
Solche Einsichten sind nicht nur für das Verständnis des komplexen Phänomens "Schmerz" und verschiedener Schmerzformen wichtig: Mit ihrer Hilfe können - in Verbindung mit physiologischen und molekularbiologischen Untersuchungen - Mechanismen und Risikofaktoren aufgespürt werden, die zur Chronifizierung von Schmerzen führen. Vor allem können Forscher bildgebende Verfahren auch für die Weiterentwicklung therapeutischer Strategien nutzen: "Wir können beispielsweise untersuchen, ob und wie verschiedene Behandlungsmethoden - medikamentöse, aber auch psychologische Strategien - die verschiedenen Neuronengruppen beeinflussen, die an der Verarbeitung schmerzhafter Reize beteiligt sind." erklärt Tölle. "Wir spielen dabei quasi auf der Klaviatur der Schmerzreize und setzen die verschiedenen Therapien dagegen."
Das Opiatsystem spielt bei Schmerz eine zentrale Rolle. Alle Gehirnregionen, die Schmerzsignale verarbeiten, haben Eines gemeinsam: Körpereigene Opiate, sogenannte Endorphine, spielen als Signalübermittler eine entscheidende Rolle. "Dies ist sicherlich der entscheidende Grund dafür", so Tölle, "dass Morphin und seine synthetischen Abkömmlinge, die Opioide, die wirksamsten Schmerzmittel sind, die wir bei starken Schmerzen haben.
Doch selbst diese hochpotenten Schmerzhemmer lindern nicht jede Art von Schmerz und können vor allem im Laufe einer längeren Behandlung mitunter an Wirksamkeit verlieren. Mit Hilfe der bildgebenden Verfahren können die Forscher nun nachweisen, dass ihre Opiat-Testsubstanzen, die in der Bildgebung eingesetzt werden, bei chronischen Schmerzsyndromen weniger gut an den Bindungsstellen (Rezeptoren) auf der Oberfläche der Neuronen andocken. Wodurch dieses Phänomen verursacht wird, ist indes noch unklar. Ziehen Nervenzellen die Rezeptoren auf ihrer Oberfläche ein oder sind bei starken Schmerzen alle verfügbaren Rezeptoren von körpereigenen Opiaten bereits besetzt?
Selbst wenn die Forscher hier noch im Dunkeln tappen, haben sie dennoch Wege gefunden, die Empfindlichkeit des körpereigenen Opiatsystems zu steigern: Verschiedene andere Medikamente, die an Rezeptoren für unterschiedliche Signalstoffe (Neurotransmitter) im Gehirn andocken können, beeinflussen dadurch über komplexe Signalkaskaden auch das Opiatsystem. Diese anderen Medikamente "kitzeln das endogene Opiatsystem wach und machen es wieder empfänglich", erklärt Tölle.
Oberstes Ziel ist eine maßgeschneiderte Therapie. Das langfristige Ziel dieser Aktivitäten: Eine maßgeschneiderte Therapie, die sich an dem jeweiligen Schmerzmechanismus orientiert. Denn hier gibt es Unterschiede. Eine Schmerzform entsteht durch den ständigen Einstrom von Schmerzimpulsen, die von Schmerzrezeptoren in Geweben und Organen, den "Nozizeptoren", aufgenommen und weitergeleitet werden. Experten nennen diesen Schmerz "Nozizeptorschmerz". Der so genannte neuropathische Schmerz entsteht hingegen dann, wenn Nerven oder Gehirnstrukturen geschädigt sind.
Zwar gibt es Überlappungen und Übergänge zwischen diesen beiden Schmerzarten, doch prinzipiell sind sie unterschiedlich. Der Nozizeptorschmerz ist die Hauptkomponente beispielsweise von Schmerzen bei chronischen Entzündungen, Rückenschmerzen und Tumorschmerzen. "Wir gehen davon aus", erklärt Tölle, "dass diese Schmerzen weitgehend wieder verschwinden können, wenn die sie verursachende Erkrankung geheilt oder behandelt wird. Ebenso kann der Einstrom von Schmerzsignalen in das Zentralnervensystem mit Medikamenten effektiv gehemmt werden.
Beim neuropathischen Schmerz sind Nervenbahnen (etwa bei Schmerzen nach einer Gürtelrose oder bei diabetischen Spätschäden) oder bestimmte Gehirnareale (etwa nach Schlaganfällen) geschädigt. "Dies erklärt", so Tölle, "warum in solchen Fällen trotz Gewebeheilung die Schmerzen weiterbestehen oder sogar schlimmer werden können." Darum werden die Wissenschaftler auf dem Deutschen Schmerzkongress diskutieren, ob und wie diese beiden Schmerzformen unterschiedlich behandelt werden müssen. Denn vor allem bei neuropathischen Schmerzen gehen die Ärzte davon aus, dass sie verschiedene Strategien miteinander kombinieren müssen, etwa unterschiedlich wirkende Arzneimittel, die jeweils andere neurochemische Signalketten anstoßen.
Pressestelle des Deutschen Schmerzkongresses:
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Rückfragen an:
PD Dr. med. Dr. rer. nat. Thomas R. Tölle
Neurologische Klinik, Technische Universität München, Klinikum rechts der Isar
Möhlstraße 28, 81675 München
Tel.: 089-4140-4658 Fax: 089-4140-4659
e-mail: dgss99@lrz.tu-muenchen.de
Criteria of this press release:
Medicine, Nutrition / healthcare / nursing
transregional, national
Miscellaneous scientific news/publications, Research projects, Scientific conferences
German
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