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10/20/1999 23:41

Volkskrankheit Migräne: unterschätzt und zu oft falsch behandelt

Dipl. Biol. Barbara Ritzert Pressearbeit
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften

    (München) In Deutschland leiden etwa zehn Prozent der erwachsenen Bevölkerung an Migräne. Das Gewitter im Kopf beeinträchtigt das Leben der Patienten erheblich und belastet die Volkswirtschaft. "Doch nur ein Bruchteil der Betroffenen wird von Ärzten nach den modernen Therapieempfehlungen behandelt", kritisieren Experten auf dem Deutschen Schmerzkongress.

    "Eine Migräne kann nur dann erfolgreich behandelt werden, wenn eine wirksame Attackenbehandlung mit vorbeugenden Maßnahmen und nicht-medikamentösen Therapieverfahren kombiniert wird", stellt Dr. Volker Pfaffenrath, Präsident der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) fest. Doch die Realität sieht anders aus: Vorurteile, Mythen und falsche Vorstellungen in den Köpfen über die Auslöser und Ursachen der Migräne führen dazu, dass oft unwirksame und bisweilen sogar schädliche Therapien eingesetzt werden.

    Therapieempfehlungen werden nicht berücksichtigt.

    Zwar veröffentlicht die DMKG seit vielen Jahren Therapieempfehlungen, die auf wissenschaftlichen Untersuchungen und Studien beruhen, doch diese werden in der Praxis leider allzu oft nicht berücksichtigt. Dies belegt eine Studie in 383 Hausarztpraxen, über die auf dem Schmerzkongress berichtet wird. Drei Viertel der ärztlichen Verordnungen stimmten nicht mit den Empfehlungen der Experten überein.

    Dabei sind diese Therapieempfehlungen vergleichsweise simpel: Leichte bis mittelgradige Kopfschmerzen sollten mit 1000 Milligramm Acetylsalicylsäure als Brause- oder Kautablette oder Paracetamol behandelt werden. Ein Mittel gegen Übelkeit und Erbrechen - vor dem Schmerzmittel eingenommen - lindert nicht nur die typischen Begleiterscheinungen, sondern erleichtert auch die Aufnahme des Analgetikums aus dem Magen-Darm-Trakt. Auch bestimmte Nichtsteroidale Antirheumatika können eine Migräne lindern.

    Zur Behandlung schwerer Migräne-Attacken, die auf einfache Schmerzmittel nicht mehr ansprechen, stehen Mutterkornalkaloide und Triptane zur Verfügung. Von den Triptanen wurden bislang vier Substanzen (Sumatriptan, Zolmitriptan, Naratriptan und Rizatriptan) zugelassen, eine weitere (Eletriptan) dürfte im nächsten Jahr zugelassen werden. Zwei weitere Triptane (Almotriptan und Frovatriptan) befinden sich in der klinischen Prüfung.

    Wundermittel gibt es nicht.

    Doch auch die neuen Triptane sind keine Wundermittel: Etwa 40 Prozent aller Attacken und bis zu einem Viertel der Migränekranken sprechen auf kein Triptan an. Woran dies liegt, wissen die Experten noch nicht. Andere Substanzen, die ebenfalls in das komplexe Geschehen bei einer Migräneattacke gezielt eingreifen, werden zur Zeit intensiv erforscht. Etliche Kandidaten, die sich bei Tiermodellen der Migräne als wirksam erwiesen hatten, scheiterten indes im klinischen Versuch an Patienten. Derzeit werden Substanzen untersucht, die die Wirkung eines bestimmten Eiweißstoffes, dem "Calcitonin-Gen-bezogenen Peptid" beeinflussen. Darum haben die Experten Hoffnung, dass in absehbarer Zeit neben den Triptanen noch weitere Substanzen zur Verfügung stehen werden.

    "Ist eine Migräne-spezifische Therapie bei schwereren Attacken erforderlich", so Pfaffenrath, "stellt ein Triptan eine bessere Wahl dar als ein Mutterkornalkaloid. Dies gilt vor allem für die menstruelle Migräne." Gleichwohl erfolgt die Nennung der Triptane im Stufenschema der Therapieempfehlungen erst nach den Mutterkornalkaloiden. "Dies geschah", erklärt Pfaffenrath, "ausschließlich wegen der Kosten-Nutzen-Relation." Klartext: Triptane sind teuer. "Wenn Patienten mit Mutterkornalkaloiden gut zurecht kommen, können sie diese Therapie beibehalten", so Pfaffenrath. Vor allem dann, wenn Migräne-Attacken sehr lange andauern oder trotz Behandlung wiederkommen (Wiederkehrkopf-schmerz) können Mutterkornalkaloide sogar sinnvoller sein. Für alle Schmerz- und Migränemittel gilt jedoch eines: Sie dürfen nicht häufiger als an zehn Tagen pro Monat eingenommen werden.

    Nicht-medikamentöse Strategien sind wichtig.

    Darum sollte die medikamentöse Behandlung durch verhaltenstherapeutische und psychologische Strategien ergänzt werden. "In der Praxis bewährt hat sich regelmäßiger leichter Ausdauersport, etwa Joggen, Radfahren oder Schwimmen. Erwiesen ist, dass Methoden zur Stressbewältigung und Entspannung sowie Biofeedback und verhaltenstherapeutische Strategien Zahl und Schwere der Attacken reduzieren kann. "Problematisch ist jedoch, dass nicht genügend qualifizierte Therapeuten zur Verfügung stehen, die diese Techniken vermitteln können", beklagt Pfaffenrath.

    Wenn Patienten mindestens drei Attacken pro Monat haben, die schlecht auf eine Behandlung ansprechen, können Häufigkeit und Schwere auch durch Medikamente reduziert werden. Dabei handelt es sich in erster Linie um bestimmte Betarezeptorenblocker. Es werden aber auch andere Substanzen eingesetzt. "Wichtig ist, dass diese Prophylaxe ausreichend lange erfolgt", betont Pfaffenrath. Denn ein Effekt tritt frühestens nach sechs bis acht Monaten ein. Bis dahin registrieren die Patienten häufig nur Nebenwirkungen, die erst nach und nach verschwinden. Greift die Vorbeugung, können die Mittel nach einem Jahr abgesetzt werden, um zu prüfen, ob inzwischen auf sie verzichtet werden kann.

    Eine teure Volkskrankheit.

    Die Migräne wird nicht nur medizinisch, sondern auch in ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung unterschätzt. Dies belegen Untersuchungen, die auf dem Deutschen Schmerzkongress vorgestellt werden. Eine Erhebung des Instituts für Gesundheitsökonomik in München zeigt, dass im Jahr 1997 für ärztlich verordnete Migränemedikamente 130 Millionen Mark aufgewendet wurden. Darüber hinaus gaben die Migränekranken für freiverkäufliche Schmerzmittel zusätzlich 570 Millionen Mark aus. 180 Millionen kostete die ambulante Migränebehandlung, 50 Millionen die stationäre. Zusammengenommen kostet die medizinische Versorgung also 930 Millionen Mark.

    Ungleich höher sind die Kosten durch Fehltage am Arbeitsplatz und eingeschränkte Produktivität: Sie betragen zusammen über acht Milliarden Mark. "Ein erheblicher Teil dieser indirekten Kosten", so Dr. Stefan Evers von der Neurologischen Universitätsklinik Münster, "dürfte durch unzureichende und falsche Therapien verursacht werden." Eine richtige Therapie setzt jedoch eine exakte Diagnose voraus. "Dies", so Evers, "ist eine Leistung der 'sprechenden Medizin', die jedoch nicht ausreichend honoriert wird." Apparative Verfahren sind dazu nur in Ausnahmefällen erforderlich. Doch für diese werde, auch in der Kopfschmerzdiagnostik zu viel Geld ausgegeben. "Durch entsprechende Umschichtungen", meint Evers, "lassen sich die direkten und indirekten Kosten von Kopfschmerzerkrankungen sicherlich reduzieren, die Lebensqualität der Betroffenen wesentlich verbessern, ohne dass in der Summe eine Kostenausweitung erforderlich ist."

    Pressestelle des Deutschen Schmerzkongresses:
    Barbara Ritzert, ProScientia GmbH
    Andechser Weg 17; 82343 Pöcking;
    Tel. 08157/93 97-0; Fax: 08157/93 97-97
    während der Tagung: Tel. 089/2180-5590; Fax: 089/2180-5684
    e-mail: Presse@schmerzkongress.de

    Rückfragen an:

    Dr. Volker Pfaffenrath
    Präsident der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft
    Leopoldstraße 59/II, 80802 München
    Tel.: 089- 33 40 03, Fax: 089 - 33 29 42, e-mail: vpfa@aol.com

    Dr. Stefan Evers
    Klinik und Poliklinik für Neurologie, Westfälische Wilhelms-Universität
    Albert-Schweitzer-Straße 33, 48129 Münster
    Tel.: 0251-834-8175 Fax: 0251-834-8181
    e-mail: everss@uni-muenster.de


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    Criteria of this press release:
    Medicine, Nutrition / healthcare / nursing
    transregional, national
    Miscellaneous scientific news/publications, Research results, Scientific conferences
    German


     

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