Nr. 87 / 6. November 1999
Gorbatschow wurde Präsident von Karlsruher Akademie
Neue Einrichtung will ökologisches Bewusstsein in Russland fördern
Der frühere Staatschef der ehemaligen Sowjetunion Mikhail Gorbatschow wurde heute zum Präsidenten der neu gegründeten Internationalen Akademie für Nachhaltige Entwicklungen und Technologien an der Universität Karlsruhe ge-wählt. Bei einer Pressekonferenz stellten Gorbatschow und Universitätsrektor Professor Dr.-Ing. Dr. h. c. Sigmar Wittig die Ziele und Aufgaben der Akade-mie vor. Auch der Vorsitzende des russischen Staatskomitees für Umweltschutz in Moskau, Professor Dr. Victor Danilov-Danilian, war anwesend und erläuterte die Geschichte der langjährigen Beziehungen zwischen Russland und der Uni-versität Karlsruhe. Ministerpräsident Erwin Teufel unterstrich die Bedeutung der Akademie für das Land Baden-Württemberg.
Hauptziel der Akademie ist es, das ökologische Bewusstsein in Russland und anderen osteuropäischen Ländern zu fördern. Im Mittelpunkt stehen die Ver-mittlung von Kooperationen und die Förderung des gegenseitigen Transfers im Umweltbereich, vor allem
· die Zusammenarbeit zwischen Forschungs- und Ausbildungseinrichtungen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung
· die Unterstützung von Firmen, die umweltfreundliche Technologien auf ost-europäischen, vor allem russischen Märkten anbieten
· der Austausch von Expertinnen und Experten sowie Aus- und Weiterbil-dungsmaßnahmen für Führungspersonal und Lehrkräfte, unter anderem durch Praktika in westlichen Firmen
· die Unterstützung wissenschaftlicher, technischer und wirtschaftlicher Pro-jekte.
Konkret bedeutet dies die Vermittlung von Kooperationen, die Organisation in-ternationaler Projekte, die Veranstaltung von Konferenzen und Fachseminaren sowie den Austausch von Wissenschaftlern und Studierenden. Außerdem ist vorgesehen, dass Gutachten zu sozial-ökologischen, technischen und wirt-schaftlichen Themen erstellt werden. Die Akademie soll den Weg bereiten für die Interaktion der Volkswirtschaften. Neben Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftlern können sich auch Firmen einbringen, die über die Akademie Entfal-tungsmöglichkeiten erhalten. Als erstes Projekt der Akademie ist für das Jahr 2000 ein Umweltkolloquium zum Thema "Zehn Jahre Umweltpolitik in Mit-tel- und Osteuropa" in Karlsruhe geplant.
Gründungsmitglieder der Akademie sind die Universität Karlsruhe und die Gorbatschow-Stiftung in Moskau sowie weitere Persönlichkeiten und Unter-nehmen, die im Umweltsektor aktiv und an einer intensiven deutsch-russichen Kooperation interessiert sind. Den Vorstand der Akademie bilden folgende Per-sonen:
· Professor Dr. Fritz Hartmann Frimmel,
Prorektor der Universität Karlsruhe und Lehrstuhlinhaber für Wasserchemie am Engler-Bunte-Institut (Vorsitzender)
· Professor Dr. Victor Danilov-Danilian,
Vorsitzender des russischen Staats-komitees für Umweltschutz in Moskau (Stellvertretender Vorsitzender)
· Dipl.-Ing. Dipl. Wirtsch.-Ing. Holger Burmester,
Nemectron GmbH, Karlsruhe (Schatzmeister)
· Professor Dr. Rolf Krohmer, Universität Karlsruhe (Schriftführer)
· Professor Dr. Heinz Kunle, Universität Karlsruhe.
Mikhail Gorbatschow hat sich die Umweltthematik schon vor vielen Jahren zur Aufgabe gemacht. So wurde unter seiner Präsidentschaft erstmals in der Ge-schichte der Sowjetunion ein Umweltministerium eingerichtet. Gorbatschow ver-stärkte sein Engagement nach Ablauf seiner Amtszeit und wurde 1992 Präsi-dent der Umweltorganisation "Green Cross International", die im Zusammen-hang mit dem Umweltgipfel in Rio de Janeiro gegründet wurde. 1997 startete innerhalb der von ihm gegründeten Gorbatschow-Stiftung ein internationales Forschungsprojekt mit dem Titel "The Twenty-First Century - A Century of Glo-bal Challenges and Responses". Ziel dieses Projektes ist es, das Phänomen der Globalisierung als einen wichtigen Trend in der gegenwärtigen internatio-nalen Entwicklung zu erforschen. Das Unterprojekt "The Crisis of the Environ-ment: The Crucial Challenge" leitet Professor Dr. Victor Danilov-Danilian, und seit dieser Zeit arbeiten er und Gorbatschow eng zusammen.
Die Universität Karlsruhe konnte Mikhail Gorbatschow bereits im vergangenen Jahr als Gastredner für das viel beachtete "Deutsch-Russische Umweltkollo-quium und Umweltforum" gewinnen. Damals forderte der frühere Kreml-Chef in einer engagierten Rede die "Revolution in den Köpfen der Menschen": Nur mit Hilfe einer neuen Weltordnung auf der Basis gegenseitiger Verantwortung und Zusammenarbeit ließen sich nach Worten Gorbatschows die globalen öko-logischen Probleme lösen. Auf die Technologien allein dürfe man sich nicht verlassen. Bei diesem Besuch in Karlsruhe hatte Gorbatschow die Einrichtung der nun gegründeten Akademie angeregt und in die Wege geleitet.
Die Geschichte der Beziehungen zwischen Russland und der Universität Karlsruhe geht jedoch noch viel weiter zurück. Die Weichen stellte das Institut für Philosophie an der Universität Karlsruhe mit seinem Ordinarius Professor Dr. phil. Dr. h. c. mult. Hans Lenk im Jahr 1989. Seit dieser Zeit pflegen die Karlsruher Philosophen am Institut von Hans Lenk intensive Kontakte mit der Abteilung Philosophie der Russischen Akademie der Wissenschaften in Mos-kau, die mit Professor Dr. Dr. h. c. Viacheslav S. Stiopin den derzeit führenden offiziellen Repräsentanten der russischen Philosophie vorzuweisen hat. In An-erkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen auf dem Gebiet der Wissen-schaftstheorie und der Integration von Natur-, Sozial- und Humanwissenschaf-ten erhielt er in diesem Jahr die Ehrendoktorwürde der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Karlsruhe.
1993 fand eine erste größere deutsch-russische Veranstaltung statt, die Tagung "Technikphilosophie und Wirtschaftsphilosophie in Russland und Deutschland" in der Evangelischen Akademie Baden. Initiatoren dieser Tagung waren der damalige Rektor der Universität Karlsruhe, Professor Dr. Heinz Kunle, sowie Professor Dr. Vitali Gorokhov von der Russischen Akademie der Wissenschaf-ten und seit 1995 Koordinator des Deutsch-Russischen Kollegs. Gorokhov ist gleichzeitig persönlicher Berater von Danilov-Danilian. Einige Teilnehmer dieser Veranstaltung sind heute Gründungsmitglieder der Internationalen Akademie für Nachhaltige Entwicklungen und Technologien.
Ein weiterer Meilenstein war die Einrichtung des bislang einmaligen "Deutsch-Russischen Kollegs", das zum Wintersemester 1995/96 mit acht russischen Stipendiaten in Karlsruhe seinen Betrieb aufnahm. Dabei handelt es sich um ein dreijähriges Aufbaustudium in den drei alternativen Studienrichtungen Wissen-schafts- und Technikphilosophie, Wirtschaftswissenschaften und Umweltwis-senschaften. Das Kolleg dient der Aus- und Weiterbildung diplomierter russi-scher Nachwuchswissenschaftler und ist ein wichtiger Beitrag zur Reform des russischen Hochschulwesens wie auch zur Förderung der Marktwirtschaft und des Umweltschutzes in Russland. Das erste Studienjahr in Russland bereitet inhaltlich und sprachlich auf den deutschen Studienabschnitt vor. Das zweite Studienjahr wird in Karlsruhe absolviert und beinhaltet unter anderem ein Un-ternehmenspraktikum. Das dritte Studienjahr mit der Abschlussprüfung findet wieder in Russland statt. Jedes Jahr gehen aus dem Kolleg durchschnittlich zwölf Absolventen hervor, die vor allem als Umweltwissenschaftler und Füh-rungskräfte in ihrer Heimat wichtige Multiplikatoren sind. Zur Zeit befindet sich die fünfte Kollegiatengeneration in Karlsruhe. Das Kolleg, das in Baden-Würt-temberg eine Vorreiterrolle spielt, wird politisch und finanziell unterstützt durch das Land Baden-Württemberg sowie durch eine Reihe von Firmen, Banken und Forschungseinrichtungen, die die Kollegiaten als Praktikanten aufnehmen.
Neben dem Deutsch-Russischen Kolleg gibt es an der Universität Karlsruhe zwei wichtige Forschergruppen, durch die auch die zwischenstaatlichen Be-ziehungen intensiviert und bereichert werden.
Am Lehrstuhl für Wasserchemie unter der Leitung von Professor Dr. Fritz Hartmann Frimmel läuft seit 1996 eine erfolgreiche Kooperation mit verschiede-nen russischen Organisationen, bei der die Verschmutzung in den russischen Flüssen Moskva und Oka im Vergleich zur Situation in Westeuropa bestimmt wird. Ein Messprogramm zum systematischen Monitoring der Wasserqualität im Moskva/Oka-Mündungsgebiet bei Kolomna etwa 100 Kilometer südlich von Moskau wird derzeit eingerichtet. Es soll wichtige Daten liefern, mit deren Hilfe sich ein Konzept für eine gesicherte Trinkwasserversorgung erstellen lässt. Ziel des Projektes, das mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und For-schung (BMBF) gefördert wird, ist es, ein übertragbares Untersuchungs- und Charakterisierungskonzept zur Beurteilung der Wasserqualität in Fluss-Syste-men in Russland zu erarbeiten und als Pilotprojekt umzusetzen. Im Blickpunkt stehen neben der Bestimmung der Schadstoffsituation die Selbstreinigungskraft der Gewässer sowie Maßnahmen zur Verbesserung der Wasserqualität.
Am Institut für Wasserwirtschaft und Kulturtechnik ist darüber hinaus seit zwei Jahren das Wolga-Rhein-Verbundprojekt angesiedelt. Angestrebt wird hierbei ein Geoinformationssystem, das sich für den Hochwasserschutz und für die Energiewasserwirtschaft einsetzen lässt. 360 Kilometer der Wolga wurden hierfür bereits datenmäßig erfasst.
Die Universität Karlsruhe verspricht sich durch die neue Akademie mittel- und langfristig einen Know-how-Transfer in den Umweltwissenschaften, von dem Wissenschaftler beider Länder profitieren, besonders in Fragen der Gewässer-qualität. Der wissenschaftliche Austausch soll in eine Verbesserung der Tech-nologien münden, die in beiden Ländern dringend benötigt wird.
Die Akademie hat aber auch eine ethische und eine politische Dimension. Die Universität Karlsruhe, die in der Umweltforschung und der Umwelttechnik seit Jahren eine wichtige Rolle spielt - sichtbarer Ausdruck ist das vor zwei Jahren eröffnete Forschungszentrum Umwelt, in der die Umweltforschung einen räum-lichen und organisatorischen Mittelpunkt findet -, stellt sich der Verantwortung und möchte einen wichtigen Beitrag zur Lösung der globalen Umweltproblema-tik leisten, die nur dann effektiv sein kann, wenn sie länderübergreifend prakti-ziert wird. Durch die seit Jahren unabhängig vom politischen Tagesgeschehen hervorragend funktionierende Zusammenarbeit mit russischen Wissenschaftle-rinnen und Wissenschaftlern werden darüber hinaus die zwischenstaatlichen Beziehungen positiv beeinflusst.
- Andrea Melcher -
Diese Presseinformation ist im Internet unter folgender Adresse abrufbar:
http://www.uni-karlsruhe.de/~presse/Pressestelle/pi87.html
http://www.uni-karlsruhe.de/~presse/Pressestelle/pi87.html
Criteria of this press release:
Biology, Environment / ecology, Oceanology / climate
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