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10/11/1997 00:00

Russland an der Schwelle zum 21. Jahrhundert

Ingrid Hildebrand Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Universität Kassel

    Tagung im Januar: Auf der Suche nach einer neuen Identität - Rußland an der Schwelle zum 21. Jahrhundert

    Kassel. Vor zehn Jahren, am 27. Januar 1987, hielt Michail Gorbatschow seine berühmte Rede vor dem ZK der KPdSU. Ihr Tenor war: "Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen." Seit mit diesem Aufruf an die sowjetische Gesellschaft und die sowjetischen Politiker der Reformprozess ins Rollen kam, hat Rußland gewaltige Veränderungen erfahren. Die Sprengkraft der nationalen Frage erwies sich als stärker als der Zusammenhalt der Staaten der Sowjetunion. Die russische Gesellschaft erlebte einen politischen Aufbruch.Rußland konstituierte sich als größter Nachfolgestaat der ehemaligen Sowjetunion, und Generalsekretär Gorbatschow verlor den Kampf um die Macht in Rußland an seinen Herausforderer Boris Jelzin. Inzwischen ist Boris Jelzin seit sechs Jahren unangefochten der Präsident Rußlands. Wie weit ist in diesen zehn Jahren die demokratische Entwicklung , im ökonomischen und gesellschaftlichen Bereich, gediehen? Dieser Frage geht eine Tagung des Ost-West-Wissenschaftszentrums unter dem Titel "Auf der Suche nach der neuen Identität - Rußland an der Schwelle zum 21. Jahrhundert" nach. Sie findet am 29. und 30. Januar 1998 im Gießhaus der GhK statt.

    Mit der ökonomischen "Schocktherapie" und der Preisliberalisierung im Jahre 1992 wurden wichtige wirtschaftliche Veränderungen in Gang gesetzt. Man strebte die Bildung einer starken Mittelschicht an, die hauptsächlich Träger einer an westlichem Muster orientierten Marktwirtschaft und Demokratie sein sollte. Jedoch zeigt sich heute, daß gerade die ehemalige Mittelschicht der große Verlierer der neuen Verhältnisse ist. Viele Menschen müssen monatelang auf ihren Lohn und ihre Rente warten - die großen staatlichen Unternehmen (Rüstungsindustrie, Kohleförderung) und vor allem Universitäten und Forschungsinstitute können ihre Angestellten nur noch sporadisch bezahlen. Auf der anderen Seite gibt es die sogenannten "Nouveaux Riches", die von den veränderten Verhältnissen profitiert haben. Die Wirtschaft in Rußland sieht sich großen Problemen gegenüber. Es gibt weder einen vom Markt selber bewirkten Aufschwung noch eine staatliche Wirtschaftsstrategie. Um die fehlende Eigenleistung zu überbrücken, werden permanent Kredite aufgenommen. Die besondere Problematik der russischen Wirtschaft liegt darin, daß keine marktwirtschaftliche, sondern eine machtpolitische Konkurrenz vor allem zwischen Banken, Energiesektor und Industrie stattfindet. Inzwischen leben über 30 Prozent der russischen Bevölkerung am Rande des Existenzminimums, und die sozialen Säulen der Gesellschaft geraten ins Wanken: Versorgungs- und Bildungseinrichtungen, wie Krankenhäuser, Schulen, und Kinderkrippen, sind vom Zerfall bedroht. Die Menschen sind von der Armut und dem ständigen Überlebenskampf zermürbt, und es besteht die Gefahr, daß der Ruf nach einem "starken Mann" lauter wird.

    Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus gibt es keine überzeugenden Wertorientierungen mehr. Diesem Manko allerdings will Präsident Jelzin abhelfen. Im Juli 1996 rief er die russische Öffentlichkeit dazu auf, im Rahmen eines Wettbewerbs eine "neue nationale Idee" zu schaffen, die integrierend auf das russische Volk wirken sollte.Es gibt bereits einen Sieger, der Wettbewerb wird jedoch weiter fortgesetzt. Anscheinend besteht ein starkes Bedürfnis der an die Sowjetideologie gewöhnten Politiker nach einer Integrationsidee.

    In den Augen westlicher Politiker ist Boris Jelzin der Garant für eine demokratische Entwicklung Rußlands. Er ist durch freie Wahlen legitimiert, hat es geschafft, die Kommunisten zu einer unbedeutenden Gruppierung zu degradieren und hat mit A. Lebeds Hilfe den Tschetschenien-Krieg beendet. Deshalb unterstützten sie - besonders der deutsche Kanzler - die Wiederwahl Jelzins im Juli 1996. Die schwere Krankheit des Präsidenten zeigte jedoch, daß die starke Stellung des Präsidenten gegenüber Parlament und Föderationsrat sich als Konstruktionsfehler der Verfassung erweist. Die Führungsschwäche der Exekutive führte unter den Politikern in der Umgebung Jelzins sofort zu Kämpfen um seine Nachfolge. Es wird auch immer deutlicher, daß sich eine Oligarchie gebildet hat, deren Politiker Präsident Jelzin den Wahlkampf finanzierten und danach mit entsprechenden Posten "belohnt" wurden.

    Die Zeitschrift "Wostok" hat in ihrer Ausgabe vom März/April 1997 einen Aufruf russischer Intellektueller (darunter S. Kovalëv, J. AfanasŽev, L. Kopelev) an die deutsche Öffentlichkeit abgedruckt. Angeprangert wird hier die deutsche Politik, die kritiklos das entstandene antidemokratische Regime und die Wirtschaftspolitik Jelzins unterstütze. Gefordert wird eine klare Darstellung der Verhältnisse in Rußland und eine dementsprechende Politik Deutschlands. Dieser Aufruf und das zehnjährige Bestehen der Reformpolitik sind Anlaß, die aktuelle Situation in Rußland zu analysieren und und eine Zwischenbilanz zu ziehen. Wie weit ist der Reformprozeß in Richtung einer Demokratisierung und marktwirtschaftlichen Umstrukturierung vorangeschritten? Welche Konzeptionen werden für die weitere Entwicklung des Landes in Rußland erarbeitet und diskutiert? Hat sich die deutsche Rußland-Politik bewährt oder bedarf sie einer Korrektur? Gemeinsam mit einigen der Unterzeichnern des oben genannten Aufrufs und Experten aus Rußland und Deutschland sollen die Lage Rußlands erörtert und die deutsche Rußland-Politik zur Diskussion gestellt werden.

    Die Tagung zielt insgesamt darauf ab,einen Beitrag zu leisten zu einem besseren Verständnis der innen- und außenpolitischen Situation und den Perspektiven Rußlands insbesondere auch im Verhältnis zu Deutschland als wichtigem Partner in Europa. Eingeladen werden russische Experten sowie deutsche Rußlandkenner und -beobachter aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Kunst und dem Medienbereich.

    Kontakt und weitere Information: Universität Gesamthochschule Kassel, Ost-West-Wissenschaftszentrum, Dr. Gabriele Gorzka, Tel. (0561) 804-3609


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    Social studies
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