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10/02/2006 10:49

Universität Mannheim: Österreich auf dem deutschen Weg?

Achim Fischer Abteilung Kommunikation
Universität Mannheim

    Mannheimer Zentrum für europäische Sozialforschung (MZES) sieht deutliche Parallelen, aber auch Unterschiede zur Bundestagswahl / Verschiebungen zu einer Mehrheit links der Mitte noch möglich

    Prof. Dr. Wolfgang C. Müller, Direktor des Mannheimer Zentrums für europäische Sozialforschung und österreicherischer Staatsbürger, sieht in der Österreich-Wahl deutliche Parallelen zur deutschen Bundestagswahl 2005: "Die Ähnlichkeiten sind bemerkenswert. Das Ergebnis ist für Politiker wie Wissenschaftler überraschend, die Sozialdemokraten haben deutlich besser, die Christdemokraten deutlich schlechter abgeschnitten als erwartet. Zudem waren bzw. sind die Koalitionsmöglichkeiten durch den Ausschluss von Parteien als Koalitionspartner in beiden Staaten sehr eng begrenzt. Diese Fakten werden auch bei Vorliegen des endgültigen Wahlergebnisses gelten, also nachdem die 300.000 bis 400.000 Wahlkartenstimmen ausgezählt sind", so der Politologe.

    Anders als in Deutschland gibt es in Österreich am Wahlabend eine Mehrheit rechts der Mitte: ÖVP (66 Sitze), BZÖ (8) und FPÖ (21) können zusammen 95 Sitze im Nationalrat erwarten, SPÖ (68) und Grüne (20) nur 88. SPÖ, ÖVP und Grüne haben eine Zusammenarbeit mit der FPÖ sowohl vor als auch nach den Wahlen explizit ausgeschlossen. Damit erscheint am Wahlabend nur eine große Koalition SPÖ-ÖVP möglich. Die Wählerinnen und Wähler, die in Österreich mittels Wahlkarte gewählt haben oder ihre Stimme im Ausland abgegeben haben, könnten aber die arithmetischen Koalitionsmöglichkeiten und damit die Verhandlungsstellungen der Parteien noch wesentlich mitbestimmen. "Die Auszählung der Wahlkartenstimmen könnte die Mehrheit von rechts der Mitte zu links der Mitte verschieben. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die ÖVP und die Grünen mit überproportional vielen Wahlkartenstimmen rechnen dürfen, SPÖ und FPÖ - und wohl auch BZÖ - würden dann tendenziell schwächer", so Müller.

    Eine solche Entwicklung wäre vor allem deshalb bedeutend, weil das BZÖ mit 4.20 % der Stimmen am Wahlabend nur knapp über die Sperrklausel von 4 % liegt. Eine deutliche "Schieflage" der Wahlkartenstimmen könnte das BZÖ noch unter die 4 %-Hürde drücken. Das BZÖ kann allerdings in diesem Falle hoffen, über die Wahlkartenstimmen jene Stimmen zu erhalten, die den zweiten möglichen Weg in den Nationalrat darstellen: Den Gewinn eines Regionalmandats in der BZÖ-Hochburg Kärnten. Falls das BZÖ auch dieses so genannte Grundmandat verfehlt, ist mit einer arithmetischen Parlamentsmehrheit von SPÖ und Grünen zu rechnen. Neben der großen Koalition aus SPÖ und ÖVP bleibt also auch Rot-Grün denkbar.

    Für die große Koalition spricht jedoch, dass eine rot-grüne Mehrheit in jedem denkbaren Fall sehr knapp wäre. Sie könnte durchaus nur aus einem Mandat gegenüber der Opposition bestehen. Zudem fordern in beiden Großparteien starke Kräfte eine Rückkehr zur großen Koalition, die über viele Jahre das Land geprägt hat und die in den meisten Bundesländern praktiziert wird. Ebenso dafür spricht, dass eine rot-grüne Koalition, bei den üblichen Abnützungserscheinungen, denen eine Regierung unterliegt, nach Einschätzung Müllers kaum mehr als eine Amtsperiode vor sich hätte. Und schließlich würde eine große Koalition über die Verfassungsmehrheit verfügen und könnte Reformen auch dann beschließen, wenn das Verfassungsänderungen erforderlich machen würde - was in Österreich häufig der Fall ist.

    Ob arithmetisch eine Koalition rechts oder links der Mitte möglich wäre und ob politisch entweder nur eine große Koalition oder zusätzlich auch eine rot-grüne Koalition möglich wäre, beeinflusst die Verhandlungsmacht der Parteien bei Koalitionsverhandlungen. Die Verteilung der Aufgaben innerhalb der Regierung und die Festlegung des Regierungsprogramms werden wesentlich von der Verhandlungsmacht der beiden Parteien abhängen, die erst nach Auszählung aller Stimmen endgültig feststehen wird.

    Das MZES erforscht seit vielen Jahren Wahlen und Wahlkämpfe in Europa. Das Projekt "Erwartungsbildung und Wahlentscheidung", finanziert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), befasst sich aktuell mit strategischem Wählen im europäischen Vergleich. Strategisches Wählen stellt ein häufiges und mitunter wahlentscheidendes Phänomen in Mehrparteiensystemen dar: Wähler stimmen in diesem Fall für eine andere als die eigentlich von ihnen präferierte Partei, um so beispielsweise die Bildung einer Koalitionsregierung zu ermöglichen oder zu verhindern. Am MZES wird untersucht, wie Koalitionsaussagen von Parteien das Wahlverhalten beeinflussen. Ebenso wichtig ist die Frage, ob bzw. in welchem Ausmaß bestimmte europäische Wahlsysteme Anreize für strategisches Wählen beinhalten: Diese bestehen beispielsweise in Österreich in Form der Vierprozenthürde. Das bei deutschen Bundestagswahlen häufig wahrgenommene Stimmensplitting von Erst- und Zweitstimme ist dagegen in Österreich nicht möglich.

    Das Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung beschäftigt sich in mehreren international vergleichenden Projekten mit den österreichischen Wahlen. Im Rahmen des DFG-finanzierten Projekts "Wahlkämpfe im Wahlkreis: Individualisierung politischer Repräsentation?" untersuchen MZES-Wissenschaftler die Rolle von Abgeordneten bzw. Kandidaten im internationalen Vergleich. Spezielles Augenmerk gilt deren Funktion als "Bindeglieder" zwischen Bürgern und Staat: Die individuelle Persönlichkeit des Wahlkreiskandidaten scheint in modernen Wahlkämpfen in den Vordergrund zu treten, während die Rolle der Partei tendenziell an Bedeutung verliert. Ob bzw. unter welchen Umständen diese Annahme in Europa eine gewisse Allgemeingültigkeit besitzt, ist eine der Forschungsfragen des Projekts. Aktuell führt das MZES hierzu eine Befragung von Kandidaten in mehreren Ländern durch. In Kooperation mit der Universität Wien findet auch eine Befragung der österreichischen Kandidaten statt.

    Wolfgang C. Müller ist Ordinarius des Lehrstuhls für politische Wissenschaft III an der Universität Mannheim. Die Schwerpunkte seines Lehrstuhls sind u.a. die Koalitions-, Parteien- und Wahlforschung. Seit Frühling 2005 ist Müller auch Direktor des MZES und verantwortlich für den MZES-Schwerpunkt "Demokratie, Parteien und Parlamente". Er hat zahlreiche Beiträge zum politischen System Österreichs veröffentlicht und ist Mitherausgeber des Handbuchs Politik in Österreich, das 2006 im Wiener Manz-Verlag erschien.


    Weitere Informationen: http://www.mzes.uni-mannheim.de/fs_projekte_d.html

    Prof. Dr. Wolfgang C. Müller
    Tel.: +49/(0)621-181- 2869
    Fax: +49/(0)621-181- 2866
    Wolfgang.C.Mueller@Uni-Mannheim.de

    Nikolaus Hollermeier
    Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
    Telefon: +49/(0)621-181-2839
    Telefax: +49/(0)621-181-2866
    Nikolaus.Hollermeier@mzes.uni-mannheim.de


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    Criteria of this press release:
    Law, Politics, Social studies
    transregional, national
    Research projects, Science policy
    German


     

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