Jena (16.03.00) Als einen "gewichtigen Schritt zu Aufklärung und geschichtswissenschaftlicher Wahrheitsfindung" bezeichnete die Hochschulleitung der Friedrich-Schiller-Universität die Buchpublikation "Die Medizinische Fakultät der Universität Jena während der Zeit des Nationalsozialismus".
Die überarbeitete und um weitere Fakten ergänzte Habilitationsschrift der Jenaer Medizinhistorikerin Susanne Zimmermann erschien nun, nachdem sie in den vergangenen sechs Jahren nur über die Archivausleihe der Unibibliothek zugänglich war, im Berliner Verlag für Wissenschaft und Bildung (VWB). Die Publikation wurde mit einem Druckkostenzuschuss durch die Universität gefördert. Die Universitätsleitung drückte ihr Bedauern über die offenkundige Verstrickung und die "ideologische wie aktive Mittäterschaft" von Jenaer Ärzten und Wissenschaftlern in das "Euthanasie"-Programm der Nationalsozialisten aus.
"Die Universität trauert um die unschuldigen Opfer", erklärte Rektor Prof. Dr. Georg Machnik. Der Respekt vor den Toten gebiete eine umfassende und rückhaltlose wissenschaftliche Aufklärung, die in Jena leider erst nach Fall der Mauer und der Öffnung aller Archive intensiv betrieben werden konnte. In einer gemeinsamen Anstrengung aller Fakultäten arbeite seine Universität die eigene Geschichte während beider deutscher Unrechtsregime im 20. Jahrhundert auf, machte der Rektor deutlich. Dies sei ein notwendiger, wenngleich schmerzlicher Erkenntnisprozess, der sorgfältig, nachhaltig und öffentlich stattfinde, um weiterer oder erneuter Verklärung und Legendenbildung vorzubeugen. "Wir müssen die Details sehr genau differenzieren und dürfen Bewertungen nur aus dem historischen Kontext heraus vornehmen", mahnte Prorektor Prof. Dr. Klaus Dicke. Darin bestehe die Verantwortung der heutigen Generation. "Vorschnelle Urteile behindern die Wahrheitsfindung mehr, als dass sie einer wirklichen Auseinandersetzung mit den historischen Fakten dienen."
Es sei deshalb falsch, der Universität Zögerlichkeit oder Geschichtsverdrängung vorzuwerfen. "Seit 1989 ist bereits Erhebliches geleistet worden", so Dicke weiter, aber viele Archive des DDR-Innenministeriums oder des MfS sind noch nicht vollständig erschlossen und ausgewertet. Insofern könne das vorliegende Buch Zimmermanns nur als ein erster, überblicksartiger Zugang betrachtet werden. Die Universitätsleitung danke der Wissenschaftlerin nachdrücklich und ermutige sie zugleich, in ihrer Arbeit fortzufahren.
Die gegenwärtige Diskussion um den Jenaer Kinderarzt Prof. Dr. Jussuf Ibrahim bezeichnete Dicke als ein "Lehrstück in politischer Bildung". Bei allem Verständnis für die Woge der Emotionen offenbare sie deutlich, wie wichtig eine nüchterne Sondierung und Bewertung der Faktenlage sei. Gerechtigkeit, nicht Rache, Anklage oder Rechtfertigung sei die historische Aufgabe. Die Universität Jena habe im Nationalsozialismus - wie auch andere Hochschulen und Institutionen - weder als Zentrum des Widerstands noch als Hort des Bösen fungiert. "In vielerlei Hinsicht herrschte hier eine grausige Normalität", so Dicke, "darin liegt eine sehr bedrückende Erkenntnis." "Insgesamt liegt noch viel Arbeit vor uns", so Dicke weiter. Die Ergebnisse dieser historischen Forschung werden ebenso wie der Abschlussbericht der "Ibrahim-Kommission" veröffentlicht.
Friedrich-Schiller-Universität
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