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03/24/1995 00:00

Frauen in der russischen Sozialdemokratie

Dr. Josef König Dezernat Hochschulkommunikation
Ruhr-Universität Bochum

    Bochum, 24.03.1995 Nr. 41

    Aus der Geschichte verdraengt

    Frauen leisteten praktische Arbeit, Maenner theoretisierten

    Auf dem Weg in die russische Sozialdemokratie 1890-1917

    Waehrend Maenner sich auf dem Feld der Theorie grandiose Schlachten lieferten, zogen Frauen unermuedlich den schwerfaelligen Karren der Organisation. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb: Die auffallend starke Beteiligung von Frauen an der revolutionaeren Bewegung gehoert zu den ebenso spektakulaeren wie verdraengten Besonderheiten der Geschichte Russlands im 19. und fruehen 20. Jahrhundert. Aus spaeteren Darstellungen der einst von Maennern und Frauen bevoelkerten politischen Buehne des Zarenreiches sind deren Heldinnen aus der Geschichtsschreibung weitgehend verschwunden: Selbst die politisch Korrekten fehlten im sowjetischen Pantheon. Keine einzige Stadt verlor ihretwegen ihren angestammten Namen. Lenin mokierte sich in Herrenwitzen ueber unkonventionelle Parteigenossinnen. Stalin betrachtete sie allesamt als 'Heringe mit Ideen'. Kurzum, bald erschien die Russische Sozial-Demokratische Arbeiter-Partei (RSDAP, gegr. 1898) 'wie ein Mann', obwohl ihre weiblichen Mitglieder Tausende, ja Zehntausende zaehlten. Dr. Beate Fieseler hat in ihrer Untersuchung "Frauen auf dem Weg in die russische Sozialdemokratie, 1890-1917. Eine kollektive Biographie" anhand einiger Hundert exemplarischer Lebenslaeufe ermittelt, wer die russischen Sozialdemokratinnen waren und warum sie ein Leben im illegalen Untergrund einem konventionellen Familiendasein vorzogen. Die von Prof. Dr. Bernd Bonwetsch (Osteuropaeische Geschichte, Fakultaet fuer Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universitaet Bochum) betreute Dissertation von Dr. Fieseler wurde kuerzlich mit dem Fritz-Epstein-Preis" ausgezeichnet, den der Verband der Osteuropahistoriker Deutschlands alle zwei Jahre vergibt.

    Die typische Sozialdemokratin stammte aus dem Adel oder der Stadtbevoelkerung, besass mindestens einen Gymnasialabschluss und verdiente ihren Lebensunterhalt als Lehrerin (sofern sie Russin war) oder als Hebamme bzw. AErztin (wenn sie juedischer Herkunft war). Demgegenueber ueberwogen bei den Maennern zwar auch die Stadtleute, doch waren sie groesstenteils nur einfach gebildet und gingen handarbeitenden Berufen nach. Dieses ausgepraegte Gefaelle zwischen den Geschlechtern war eine Folge der Politik der 'defensiven Modernisierung', die die strikte gesellschaftliche Trennung von Maennern und Frauen zwar allmaehlich lockerte, aber nicht gaenzlich aufhob. Hindernisse im Bereich der mittleren und hoeheren Frauenbildung wurden abgebaut. Frauen besetzten immer haeufiger intellektuelle und industrielle Arbeitsplaetze, die frueher ausschliesslich Maennern vorbehalten gewesen waren. Aber weder in der Familie, noch im Bildungswesen oder Berufsleben erlangten sie Gleichberechtigung. Lediglich politische Untergrundorganisationen wie z.B. die RSDAP stellten beide Geschlechter formal gleich. Dadurch, dass Maennern wie Frauen in Russland politische Rechte weitgehend versagt blieben, ergab sich in der Beseitigung der Autokratie auch ein gemeinsames Ziel. Allerdings wagten vor allem solche Frauen den Schritt in eine illegale, radikale Organisation, die sozial, bildungsmaessig und beruflich weit ueber den Bevoelkerungsdurchschnitt hinausragten.

    Verfolgt man ihre Entwicklung vom Elternhaus bis zum Parteieintritt, so zeigt sich, dass nicht erst der Entschluss, der RSDAP beizutreten, radikal war. Vielmehr stand er am Ende einer ganzen Reihe von unkonventionellen Entscheidungen, die sich sehr weit in die Jugend der spaeteren Sozialdemokratinnen zurueckverfolgen lassen. Als urspruengliche Ausloeser macht die Bochumer Historikerin traumatische Kindheitserfahrungen geltend. Je nach sozialer Herkunft gelangten Frauen in die russische sozialdemokratische Partei erst auf langjaehrigen und oftmals verschlungenen Wegen. In die Naehe der RSDAP kamen sie entweder ueber ehrenamtliche Arbeit (Arbeiterbildung, Hungerhilfe, Betreuung politischer Haeftlinge) und einem Studium im In- oder Ausland, oder ueber Selbstbildungszirkel, Sonntagsschulen und Frauenclubs und damit eher zufaelligen Kontakten mit der sozialdemokratischen Bewegung. Abgesehen von den wenigen, die einer revolutionaeren Familientradition folgten, wurde kaum eine Sozialdemokratin in Russland schon als Rebellin geboren.

    Der psychologische Hintergrund fuer spaetere politische Radikalitaet erklaert nach Dr. Fieseler auch, warum Frauen die Partei doch staerker als Familienersatz denn als Emanzipationsinstanz ansahen. Trotz ausgezeichneter Qualifikationen kamen sie naemlich meist nicht ueber unbedeutende politische Rollen hinaus. Weder im Zentralkomitee, noch in den Redaktionen der Zentralorgane oder auf Parteitagen waren Frauen jemals entsprechend ihrer 15%-igen Mitgliederstaerke vertreten. Ob sie selbst auf Distanz gingen oder bewusst von solchen Posten ferngehalten wurden, lassen die Quellen nicht erkennen. Wahrscheinlich war beides der Fall. Traditionelle Arbeitsteilung blieb also auch im revolutionaeren Untergrund weitgehend intakt. Frauen zogen unermuedlich den schwerfaelligen Karren der Organisation, waehrend Maenner sich auf dem Feld der Theorie grandiose Schlachten lieferten. Gewiss, die Sozialdemokratinnen nahmen von Anfang an als gleichberechtigte 'Genossinnen' an der Parteiarbeit teil. Tatsaechlich aber war nur eine formale Barriere gefallen. Unter dem Dach der RSDAP wurden naemlich aus unkonventionellen Frauen im Handumdrehen brave Partei-Ehefrauen. Letztlich spiegelte damit selbst die radikale sozialdemokratische Partei auch nur die traditionelle russische Gesellschaft wider, die sie angeblich so hartnaeckig bekaempfte.


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    History / archaeology
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