Am 1. Juli 2000 erhält Professor Johannes Dichgans, Direktor der Neurologischen Klinik der Universität Tübingen, gemeinsam mit den Professoren Thomas Brandt, München, und Hans-Joachim Freund, Düsseldorf, den mit 120.000 Mark dotierten ROBERT PFLEGER-PREIS. Die drei Neurologen und Hirnforscher werden für ihre grundlegenden Beiträge zur experimentellen und klinischen Neurologie gewürdigt. Die Auszeichnung gehört zu den am höchsten dotierten deutschen Forschungspreisen und wird alle zwei Jahre von der DOKTOR ROBERT PFLEGER-STIFTUNG in Bamberg verliehen.
Spezialisten können einen Alkoholiker an bestimmten Bewegungsmustern erkennen. Dass eine Schädigung des Kleinhirns für diese Bewegungsstörungen verantwortlich ist, hat Professor Johannes Dichgans, Direktor der Neurologischen Klinik der Universität Tübingen, schon in den achtziger Jahren entdeckt. Mit seinem Team hat er auch eine Messmethode entwickelt, um diese Funktionsstörungen genau zu untersuchen. Und er hat eine gute Nachricht für Alkoholkranke: Die Störungen bilden sich zurück, wenn Abstinenz geübt wird.
Als Johannes Dichgans seine Untersuchungen begann, "wußte man noch wenig über das Kleinhirn". Dies hat sich seitdem geändert - und daran hat der Preisträger einen nicht unerheblichen Anteil. Heute wissen die Forscher sehr viel genauer, welche Rolle das Kleinhirn bei der Kontrolle der Motorik hat. Wenn ein Kind lernt, sich zu bewegen, muss es dabei auch lernen, mit den passiven Kräften der Bewegung umzugehen. Diese Zusammenhänge hat der Neurologe beispielsweise intensiv erforscht. "Im Umgang mit der Bewegung programmiert das Kind sein Kleinhirn, das dabei lernt, die Bewegungen zu koordinieren", erklärt er. Diese Fähigkeit ist Teil des so genannten impliziten Gedächtnisses, dessen Bildung und Abruf nicht unbedingt an bewusste Aufmerksamkeit und kognitive Prozesse gebunden ist. Dichgans erhält den Robert Pfleger-Preis 2000 "speziell für seine Arbeiten zur Kontrolle der Motorik sowie zur Pathophysiologie des Kleinhirns".
Doch der wissenschaftliche Focus von Dichgans ist weitaus breiter. So erforscht er mit seinem Team beispielsweise auch, was Nervenzellen am Leben hält oder welche Mechanismen sie in den programmierten Zelltod treiben. Was verändert sich im Gehirn, wenn wir altern? Was unterscheidet diese natürlichen Alterungsprozesse von krankhaften Prozessen bei neurodegenerativen Erkrankungen, die sich zumeist auf bestimmte Gebiete des Gehirns beschränken?
Altert das Gehirn bei degenerativen Krankheiten in bestimmten Teilen schneller?
Solche Untersuchungen sind in einer Gesellschaft, in der der Anteil alter Menschen kontinuierlich steigt, von großer Bedeutung. "Neurodegenerative Erkrankungen - von Alzheimer über Parkinson bis hin zu Bewegungsstörungen - sind für mehr als die Hälfte aller schweren Behinderungen alter Menschen verantwortlich", erklärt Dichgans. Dabei ähneln viele krankheitsbedingte Veränderungen in bestimmten Gehirnregionen jenen, die auch natürlicherweise im alternden Gehirn auftreten. "Es scheint, als würden bestimmte Teilsysteme des Gehirns bei neurodegenerativen Erkrankungen schneller altern", so der Neurologe.
Neurodegenerative Erkrankungen haben Gemeinsamkeiten
Auffallend ist, dass neurodegenerative Erkrankungen bestimmte Gemeinsamkeiten haben. Viele sind erblich, etwa die Chorea Huntington oder verschiedene Formen von Bewegungsstörungen (Ataxien). Bei anderen gibt es zumindest Gene, etwa bei der Alzheimer'schen Erkrankung, die das Risiko für diese Krankheit erhöhen. Sowohl die Parkinson-Krankheit als auch die Alzheimer'sche Erkrankung treten - wenn auch selten - in einer erblichen Variante auf. Dann bricht die Krankheit bereits früh aus.
Eine weitere Gemeinsamkeit dieser Krankheiten ist die Produktion jeweils krankheitsspezifischer Eiweißkörper, deren veränderte Struktur dafür verantwortlich ist, dass die Proteine zu unlöslichen Aggregaten "verbacken". Diese lagern sich zwischen oder in den Zellen, bei bestimmten Leiden wie Morbus Huntington und Ataxien auch im Zellkern ab. Bei einer Reihe von erblichen Krankheiten, bei Ataxien und Chorea Huntington, entstehen die krankmachenden Eiweißstoffe deshalb, weil in ihrer genetischen Bauanleitung drei Bausteine vielfach aneinandergereiht sind. Die Folge: Bei der "Übersetzung" dieser Erbinformation in das entsprechende Protein wird eine bestimmte Aminosäure mehrfach eingebaut. Je häufiger die drei Bausteine sind, desto früher und aggressiver bricht die Erkrankung aus.
Ob die Aggregate die Erkrankung auslösen oder ob ihre Bildung nur den Versuch der Nervenzellen darstellen, die Proteine unschädlich zu machen, ist indes unklar. Denn als Wissenschaftler die Aggregation der Eiweißkörper im Experiment unterdrückten, beschleunigte dies den Zelluntergang anstatt ihn zu hemmen.
Gemeinsamkeit Nummer drei: Selbst bei den genetisch vererbten Erkrankungen vergehen meist Jahrzehnte bis sie ausbrechen. "Was die 'genetisch kodierte Zeitbombe' so lange unter Kontrolle hält und was sie schließlich zur schicksalbestimmenden 'Explosion' bringt", sagt Dichgans, "ist weitgehend ungeklärt". Möglicherweise spielen dabei natürliche Alterungsprozesse der Neuronen, äußere Einflüsse und der Zusammenbruch von Reparatur- und Schutzfunktionen eine Rolle.
Was zählt ist Prävention
Für die meisten neurodegenerativen Krankheiten gibt es - wenn überhaupt - allenfalls bescheidene Möglichkeiten, um den weiteren Verlauf zu verzögern, heilen können die Ärzte diese Leiden bislang nicht. Worauf die Therapieforschung abzielen muss, weiß Dichgans genau: "Sicher ist, dass wir mit unseren Therapieversuchen nicht dort ansetzten sollten, wo der Zelltod eine Zellkrankheit beendet, also nicht bei dem Versuch, die am Schluß stehende Selbstvernichtung der Zellen zu beeinflussen". Entscheidend ist die Prävention. So können beispielsweise bestimmte Medikamente und Antioxidantien wie die Vitamine C und E die Bildung so genannter freier Radikale unterdrücken, die sowohl bei physiologischen Alterungsprozessen als auch bei der Alzheimerschen, der Parkinsonschen und der Huntingtonschen Erkrankung verstärkt gebildet werden. Doch nicht nur Pillenschlucken kann dazu beitragen, so gesund wie möglich zu altern: "Wichtig ist auch die beharrliche körperliche und geistige Aktivierung", betont Dichgans.
Rückfragen an:
Prof. Dr. med. Johannes Dichgans
Direktor der Neurologischen Klinik der Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Hoppe-Seyler-Straße 3, 72076 Tübingen
Tel.: 07071 - 298 - 2049
Fax: 07071 - 298 - 5260
e-mail: johannes.dichgans@uni-tuebingen.de
Criteria of this press release:
Medicine, Nutrition / healthcare / nursing
transregional, national
Personnel announcements, Research projects
German
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