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11/09/2000 10:16

Was Kinder bewegt - Kindervorstellungen von Bewegung, Spiel und Sport in der Schule

Frederik Borkenhagen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Deutsche Vereinigung für Sportwissenschaft

    Die Perspektive der Kinder bleibt bei Konzepten der "Bewegten Schule" meist unberücksichtigt. Wie Kinder selbst denken, wie sie "ihre" bewegte Schule sehen, darüber liegen bislang keine empirischen Erkenntnisse vor. Ein Forschungsprojekt der Universität Bayreuth will Kinder über ihre Vorstellungen von einer "Bewegten Schule" selbst zu Wort kommen lassen.

    Vor dem Hintergrund einer angeblichen "Bewegungsarmut" von Schulkindern und damit verbundener Entwicklungsdefizite sowie im Hinblick auf eine "ganzheitliche" Förderung der Kinder im schulischen Bildungsprozess werden Konzepte entwickelt mit der Intention, Bewegung zum Schulprinzip zu erheben. Orientiert man sich an Hartmut VON HENTIG - "das Ziel [von Bildung] ist die sich selbst bestimmende Individualität" (in: Bildung. Weinheim, Basel 1999, 39) -, so wird im Hinblick auf die Konzeptualisierung von "Bewegten Schulen" ein elementares Defizit deutlich: Die Perspektive des Kindes wird nicht eingeholt. Zwar wird - mit pädagogischem Sachverstand - versucht, "vom Kind aus zu denken"; wie aber die Kinder selbst denken, wie sie "ihre" bewegte Schule sehen und über sie reden, darüber liegen bislang keine empirischen Erkenntnisse vor.

    Das zentrale Anliegen des Bayreuther Forschungsprojekts ist, Kinder über ihre Vorstellungen von einer "Bewegten Schule" selbst zu Wort kommen zu lassen. Die Kinder erhalten einen gefalteten DIN A 3-Bogen, auf dessen erster Seite die Instruktion - eine modernisierte "Drei-Wünsche-frei"-Geschichte - steht und dessen weitere drei Seiten für die Zeichnungen - je eine für den Klassenzimmerunterricht, Pausenhof und Sportunterricht - ausgewiesen sind. Aus jeder Klasse werden dann 4 Kinder (2 Mädchen und 2 Jungen) für leitfadengestützte, narrative Einzelinterviews am Bild ausgewählt. Der Leitfaden umfasst u.a. die Themen Situations- und Handlungsqualitäten von Wunschaktivitäten, globale Vorstellung von einer bewegten Schule, Vorstellungen von der Lehrerrolle in einer bewegten Schule.

    Bislang wurden vier Studien abgeschlossen, vier weitere befinden sich im Auswertungsstadium. Die aktuelle Datenlage umfasst 612 Bilder von 99 Mädchen und 105 Jungen (Alter/Jahre: x=10,28; s=.87) sowie 32 Interviews. Die Bilder werden qualitativ inhaltsanalytisch ausgewertet, und zwar ausschließlich deskriptiv nach dargestellten Aktivitäten, Ort des Geschehens und sozialer Situation. Die Daten werden anschließend quantifiziert und einer interferenzstatistischen Analyse nach Geschlecht, Jahrgangsstufe und Sportnote unterzogen. Die Interviews werden transkribiert und nach den genannten thematischen Gesichtspunkten inhaltsanalytisch ausgewertet.

    Die Spitzenreiter im Klassenzimmerunterricht sind Sitzbälle, Fitnessaktivitäten, alternative Körperpositionen (Stehen, Liegen, bequem Sitzen), Freizeitspiele, Tanzen, Basketball, Aktivitäten mit Musik, Trampolinspringen, nichtsportliche Ballspiele und Umhergehen. Die Mädchen wünschen sich häufiger Sitzbälle, Fitnessaktivitäten und Tanzen, die Jungen häufiger Abwechslung durch Freizeitspiele, Basketball und Trampolinspringen. Kinder mit den Sportnoten 1 und 2 bevorzugen den Sitzball sowie Abwechslung durch Freizeitspiele und Trampolinspringen, Kinder mit den Noten 3 und 4 hingegen Fitnessaktivitäten, alternative Körperpositionen und Tanzen.

    Die Spitzenreiter im Pausenhof sind Fußball, Tischtennis, Ballspiele ohne sportlichen Kontext, Klettern, Schaukeln, Rutschen, Hüpf- und Springaktivitäten, Basketball, Federball und Inline-Skating. Die Jungen wünschen sich häufiger Fußball und Basketball, die Mädchen häufiger nichtsportliche Ballspiele, Schaukeln, Rutschen, Hüpfspiele und Federball. Kinder mit den Sportnoten 1 und 2 präferieren Fußball und weitere Ballspiele, Kinder mit den Noten 3 und 4 zeigen größere Häufigkeiten beim Tischtennis, Rutschen und bei den Hüpfspielen.

    Die Spitzenreiter im Sportunterricht sind Fußball, Turnen (v.a. an den Ringen), Basketball, Wasseraktivitäten (v.a. Spiele und Wasserspringen), Leichtathletik (v.a. Lauf), Kunststücke (z.B. Jonglieren, Seilspringen, Stelzenlaufen), Inline-Skating, Volleyball, Völkerball und Klettern. Die Mädchen wünschen sich häufiger Turnen, Kunststücke und Klettern, die Jungen häufiger Fußball, Basketball, Leichtathletik und Wasseraktivitäten. Kinder mit den Sportnoten 1 und 2 weisen größere Häufigkeiten bei den Aktivitäten Turnen, Basketball und Klettern auf, Kinder mit den Noten 3 und 4 dagegen bei den Wasseraktivitäten und beim Inline-Skating.

    Zusammenfassend kann als Tendenz formuliert werden, dass Jungen sowie nach herkömmlichen schulischen Maßstäben "sportliche" Kinder häufiger leistungs- und wettkampforientierte (Sport-)Aktivitäten darstellen; Mädchen sowie die "weniger sportlichen" Kinder stellen demgegenüber häufiger Aktivitäten dar, die mit anderen Perspektiven, etwa Gemeinschaft oder Gestaltung, verbunden sind.

    Auf die Frage, was sie sich unter einer "bewegten Schule" vorstellen könnten, haben die Kinder vielfältig geantwortet. Dem Anliegen der Studie entsprechend, werden im Folgenden einige Äußerungen im "Originalton" wiedergegeben:

    "Also, sie sollte freundlicher sein, spannender und erlebensvoller" - "Dass nicht nur Unterricht wäre, sondern auch mal Spiel und Spaß, aber durch Spiel und Spaß auch mal Sachen zum Lernen zum Beispiel" - "Bewegung, Fußball spielen auf jeden Fall, rutschen, klettern, Tischtennis spielen und Federball spielen. Durch die Bänke krabbeln ab und zu mal und über die Tische, dann das mit Musik, immer so zwischendurch, da ist der Unterricht schöner, wenn man nicht immerzu so auf'm Stuhl hocken muss" - "So ähnlich, wie eine Sportschule. Ich finde nämlich, dass es wichtig ist, Sport zu machen, denn wenn man dauernd rumhockt, isst, dauernd vor der Glotze hockt, das ist halt nicht so gesund. Lieber an die frische Luft gehen und Fußball spielen und ein bisschen joggen, dann macht das auch mehr Spaß" - "Dass man im Pausenhof einen Basketballkorb oder zwei Tore hat, und dass man im Klassenzimmer öfter Spiele macht und im Sportunterricht auch mehr Spiele und nicht immer so Barrenturnen" - "Na, dass man sich halt auch bewegen kann. Wenn jetzt die Schule fünf, sechs Stunden dauern würde, und man hätte keine Pause, da täte einem ja dann der Po weh, da täte einem ja alles weh. Wir sollten den [Lehrer] vielleicht einmal sechs Stunden die ganze Zeit auf so harten Stühlen sitzen lassen, vielleicht weiß er dann wie das ist" - "Dass man viel Sport unternimmt und dass man nicht bloß einmal in der Woche Sport hat, sondern auch vielleicht auch zweimal oder dreimal. Und sich selber was ausdenken, also zum Beispiel andere Spiele, wäre schön" - "Dass der Unterricht auch draußen stattfindet in der Natur, und dann könnte man das den Kindern auch viel besser erklären und dass man dann auch so Sachaufgaben mit Blättern und Bäumen macht" - "Und dass man kleine Wettkämpfe macht und dann die Siegermannschaft das nächste Mal ein Spiel aussuchen darf. Das finde ich dann irgendwie besser als wenn der Lehrer andauernd bestimmt, was wir so machen. Dass auch einmal die Kinder was entscheiden dürfen" - "Und dann könnte man das auch verbinden, mit dem Unterricht und dem Sport, dass wir so durch den Ort joggen und dann der Lehrer immer was erklärt. Weil wenn man das alles zusammen tut, dann finde ich, braucht man nicht so lange und dann hat man mehr Zeit für Bewegung. Man könnte dann immer so Basketball spielen und der Lehrer fragt, wie lange braucht der Ball, bis er in das Netz geht? Und wenn man dann so läuft, dann so eine Runde, dass man dann sagt, wie viel Kilometer sind wir jetzt gelaufen und wie viele Dezimeter sind das jetzt insgesamt. Dann könnte man auch den Sport und den Unterricht so zusammentun und dann ist der Unterricht auch gut" - "Dass man da halt ganz frei ist. Dass man da nicht so verkrampft ist. Man soll in der Schule frei sein. Einfach frei."

    Die interviewten Kinder haben sehr konkrete, vielgestaltige, allerdings auch realistische Vorstellungen von "ihrer bewegten Schule". Deutlich wird, dass sie sich nicht nur einfach mehr Bewegungsaktivitäten wünschen, sondern letztlich eine Förderung von Lernprozessen durch Bewegung oder Bewegungspausen im Blick haben. Bewegte Schule heißt für Kinder auch nicht nur - wie das viele Konzeptionen vorsehen - kompensatorische, gesundheitsorientierte Bewegung, sondern zu großen Teilen auch Sport. Kinder wollen "ihren" Sport. Sportunterricht durch eine "bloß bewegte" Schule zu ersetzen, wäre demnach nicht im Sinne der Kinder. Bewegte Schule beinhaltet für Kinder darüber hinaus auch die Möglichkeit, selbst über Bewegungsgelegenheiten und -aktivitäten zu entscheiden.

    Zur Rückführung der Ergebnisse in die Praxis werden für jede Schule Ergebnisberichte erstellt und Informationsveranstaltungen mit dem Ziel der Initiation von Schulprogrammentwicklungen durchgeführt. Außerdem ist eine Wanderausstellung mit den schönsten Bildern und einer populärwissenschaftlich aufbereiteten Datenanalyse geplant.

    Weitere Informationen sind erhältlich bei: Dr. Peter KUHN, Universität Bayreuth, Institut für Sportwissenschaft, Universitätsstraße 30, 95440 Bayreuth, Tel.: (0921) 55-3469, Fax: (0921) 55-3468, eMail: peter.kuhn @uni-bayreuth.de.


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    Criteria of this press release:
    Sport science, Teaching / education
    transregional, national
    Research results
    German


     

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