"Demografischer Faktor" muss integriert werden
Die medizinische Bedarfsplanung, die Grundlage der ambulanten und stationären Versorgung, muss der tatsächlichen Entwicklung angepasst werden und auf eine neue Berechnungsbasis gestellt werden. Rostocker und Greifswalder Wissenschaftler haben die Auswirkungen des demografischen Wandels im Nordosten untersucht und mit den herkömmlichen medizinischen Hochrechnungsmethoden verglichen. "Ohne Berücksichtigung der Altersstrukturen, der Ab- und Zuwanderung sowie der Entwicklung von Volkskrankheiten wird im Jahr 2020 eine eklatante Versorgungslücke in Mecklenburg-Vorpommern klaffen", warnten die Teilnehmer am heutigen Abschlussworkshop in der Universitäts- und Hansestadt Greifswald. Die Engpässe werden mit zeitlichen Verzögerungen alle Bundesgebiete erfassen.
Mediziner, Versorgungsforscher, Ökonomen und Demografen des Universitätsklinikums Rostock, des Rostocker Zentrums zur Erforschung des demografischen Wandels sowie des Greifswalder Institutes für Community Medicine haben unter Berücksichtigung der Altersstruktur und räumlichen Verteilung eine Vorausschau der 2020 notwendigen Ärzte im Nordosten erstellt. Die Studie "Versorgungs-epidemiologische Auswirkungen des demografischen Wandels in Mecklenburg-Vorpommern" wurde von der Bundesärztekammer gefördert.
Deutliche Zunahme altersbedingter Erkrankungen, doppelt so viele Demenzfälle
Zur Ermittlung des zukünftigen ambulanten medizinischen Versorgungsbedarfs in Mecklenburg-Vorpommern wurden bevölkerungsrepräsentative Daten zur Verbreitung chronischer Erkrankungen sowie zur Inanspruchnahme niedergelassener Ärzte aus der Gesundheitsstudie SHIP (Study of Health in Pomerania) genutzt und mit verschiedenen demografischen Prognosen für das Land Mecklenburg-Vorpommern bis zum Jahr 2020 hochgerechnet. Aus den Daten konnten Aussagen über die zu erwartenden Fallzahlen für weit verbreitete Erkrankungen wie beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Krebs, Knochenschwund (Osteoporose) und Demenz sowie über die zu erwartende ambulante Inanspruchnahme von Hausärzten und Fachärzten ausgewählter Facharztgruppen abgeleitet werden.
So ist bis 2020 im Vergleich zum Basisjahr 2005 mit einem nachhaltigen Anstieg der Fallzahlen altersbedingter Erkrankungen zu rechnen. Nach Hochrechnungen basierend auf der Bevölkerungsprognose Rostocker Wissenschaftler wird allein die Anzahl der Patienten mit einem nicht tödlich verlaufenden Herzinfarkt um ca. 11.580 Fälle bzw. um 28,3 % zunehmen. Analog erhöhen sich die Patientenzahlen mit Vorliegen eines Diabetes mellitus um ca. 25.200 Fälle bzw. um 21,4 %. Demenzerkrankungen werden sich bis 2020 annähernd verdoppeln mit einer Zunahme um 17.550 Fälle bzw. 91,1 %. Zudem ist bis 2020 von einem Anstieg von neu auftretenden bösartigen Krebserkrankungen des Dickdarms um ca. 200 Fälle bzw. 30,7 % auszugehen.
Ruhestandswelle im ambulanten Sektor, 40 Prozent Mediziner scheiden aus
Der steigenden Versorgungsaufgabe trotz sinkender Bevölkerungszahlen steht eine kaum kompensierbare Ruhestandswelle an niedergelassenen Praxisärzten gegenüber. Von den im Jahr 2006 in Mecklenburg-Vorpommern tätigen 1.138 Hausärzten werden bis zum Jahr 2020 462 Mediziner (40,6 %) das Alter von 68 Jahren erreicht haben und altersbedingt ausscheiden. Dies stellt insbesondere vor dem Hintergrund der demografischen Alterung der Bevölkerung eine besondere Herausforderung für das medizinische Versorgungssystem dar.
In der SHIP-Studie konnte eine starke Altersabhängigkeit der Inanspruchnahme von Hausärzten sowie bestimmter Facharztgruppen wie Internisten und Urologen nachgewiesen werden. Mit dem Alter nehmen sowohl der Anteil der Personen als auch die Anzahl der Arztkontakte zu. So gaben 84,1 % der 80- bis 84-Jährigen an, im letzten Jahr einen Hausarzt aufgesucht zu haben, jedoch lediglich 58,3 % der 25- bis 29-Jährigen. Die durchschnittliche Anzahl der Arztkontakte betrug bei den 80- bis 84-Jährigen 9,4 gegenüber 2,2 Arztkontakten pro Jahr bei den 25- bis 29-Jährigen. Insgesamt wird somit die Anzahl der Arztkontakte bei den Allgemeinärzten bis 2020 um 8,4 % zunehmen.
Ausgehend von diesen Hochrechnungen ergibt sich in Mecklenburg-Vorpommern für 2020 ein Wiederbesetzungsbedarf von insgesamt 553 Hausärzten. Nach der herkömmlichen Bedarfsplanungs-Richtlinie ohne Berücksichtigung des demografischen Faktors wären jedoch nur 372 Ärzte notwendig.
Bei der Entwicklung des medizinischen Versorgungsbedarfs treten zudem bedeutende regionale Unterschiede auf. Während nach der Bevölkerungsprognose in der Region Greifswald die zu erwartenden Fallzahlen mit der Erkrankung Diabetes von 2005 bis 2020 um 14,9 % steigen werden, erhöhen sich die Fallzahlen in dem gleichen Zeitraum im Landkreis Bad Doberan voraussichtlich um 50,5 %. Verschärft werden diese Unterschiede dadurch, dass im Landkreis Bad Doberan etwa 59,3 % der Hausärzte bis 2020 altersbedingt ihre Zulassung zurückgeben werden, jedoch lediglich 28,6 % der Hausärzte in Greifswald.
Generation 80+ sprengt Versorgungsplanung, größter Bedarf im Raum Rostock/Bad Doberan
Auch im stationären Bereich war die zentrale Fragestellung, inwieweit unter Berücksichtung des demografischen Wandels die tatsächlich benötigte Planbettenzahl im Land prognostiziert werden kann. Dazu wurden ausschließlich vollstationäre Fälle nach Alter, Geschlecht, Fachabteilungen und Kreis verdichtet und die Fallzahl für 2020 auf Basis der Bevölkerungsprognose für Mecklenburg-Vorpommern hochgerechnet.
Die Gesamtzahl der stationären Behandlungstage belief sich im Jahr 2005 auf 2.650.685 Tage, davon entfielen 2.536.098 Tage auf Einwohner des Landes. Aufgrund der vorliegenden differenzieren Datengrundlage, die auch Altersstrukturen, Geschlechtsverteilung und Krankheitsentwicklungen einbezieht, summiert sich ein erhöhter, aber fachspezifisch unterschiedlicher zusätzlicher Bettenbedarf als nach dem bislang gängigen statischen Modell.
Nach der klassischen Hochrechnungsmethode ohne Differenzierung ergibt sich eine Verringerung des Bettenbedarfs auf 92,6 %. Die Zahl der Belegungstage würde von 2.650.685 (2005) auf 2.454.198 (2020) sinken. Die Berechnung mit Berücksichtigung des demografischen Faktors und der 2005 landesweit dokumentierten Hauptdiagnosen weist auf einen voraussichtlichen Anstieg des Bettenbedarfs auf 118 % hin, somit würde die Zahl der Belegungstage von 2.650.685 (2005) auf 3.127.444 (2020) steigen.
Die für 2020 zu erwartenden Fallzahlen und Behandlungstage nehmen bis zur Altersgruppe 50 bis 54 Jahre ab, anschließend zu. In den höheren Altersgruppen steigen beide Bezugsgrößen erwartungsgemäß an. Für die 80- bis 84-Jährigen ist eine Steigerung um mehr als 100 % realistisch. Im städtischen Bereich ist ein Mehrbedarf bis 2020 zwischen 20 und 25 % absehbar. Sehr unterschiedlich ist die Prognose für die Landkreise, nach Westen nimmt die Steigerungsrate zu. Deutlich fällt der bevölkerungsreiche Landkreis Bad Doberan mit 40 % Steigerung heraus. Damit kommt auf die Region um Rostock und Bad Doberan der größte zusätzliche Bettenbedarf zu. Diese Prognose trifft vornehmlich für die Fachabteilungen "Innere Medizin", "Allgemeinchirurgie" und "Neurologie" zu.
Fazit: Für die Bedarfsplanung ist es unerlässlich, die Veränderungen der Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen infolge der relativen und absoluten Zunahme älterer Menschen in der Bevölkerung mit einzubeziehen und zu berücksichtigen. Dabei ist Mecklenburg-Vorpommern einmal mehr als Spiegel in die Zukunft zu betrachten, da die im Nordosten ablaufenden Entwicklungsprozesse mit Zeitverzögerung nach und nach alle Bundesländer erreichen werden.
Bevölkerungsprognose für Mecklenburg-Vorpommern auf Kreisebene bis zum Jahr 2020
Detaillierte Informationen über die zukünftige Entwicklung von Größe und Struktur einer Bevölkerung auf regionaler Ebene sind unabdingbar, um weitsichtige Entscheidungen in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen zu treffen. Mit der Bevölkerungsprognose wird gezeigt, wie sich die aktuelle Struktur und die Trends in den demografischen Parametern auf die Bevölkerung in den Kreisen Mecklenburg-Vorpommerns auswirken. Die Bevölkerung einer Region ändert sich durch Geburten, Sterbefälle oder Wanderungen (Zuzüge und Fortzüge).
Die Ergebnisse belegen, dass die Bevölkerung des Bundeslandes stark schrumpfen wird, voraussichtlich in fast allen Landkreisen wesentlich stärker als in den kreisfreien Städten und dem Landkreis Bad Doberan. Auch die demografische Alterung vollzieht sich in den Landkreisen erheblich drastischer.
Die Bevölkerung Mecklenburg-Vorpommerns wird der Berechnung nach im gesamten Prognosezeitraum abnehmen. Die stärksten relativen Veränderungen zum Vorjahr wird es in naher Zukunft geben. Bis 2012 wird das Land jährlich jeweils zwischen 0,7 und 0,8 % seiner Einwohner verlieren. Danach geht die jährliche Abnahme relativ schnell auf ca. 0,2 % zurück.
Bevölkerung jeweils zum 31.12. in Mecklenburg-Vorpommern von 2005 bis 2020
2005
1.707000
2010
1.645000
2015
1.597000
2020
1.581000
(Verlust 2005 bis 2020: - 126.000)
Während die beiden Universitätsstädte Rostock und Greifswald und der Landkreis Doberan ihren Bevölkerungsbestand über den Prognosezeitraum sogar steigern können, müssen alle anderen Städte und Landkreise Verluste hinnehmen. Die Hauptursachen für die unterschiedliche Entwicklung liegen an den unterschiedlichen Anteilen beim Bevölkerungsgewinn durch Wanderung und an der unterschiedlichen Altersstruktur.
Durchschnittsalter für die Bevölkerung Mecklenburg-Vorpommern von 2005 bis 2020
2005 - 43,23
2010 - 45,60
2015 - 47,56
2020 - 48,98
Anteil Personen über 65 Jahre 2005: 20 %
Anteil Personen über 80 Jahre 2005: 4 %
Anteil Personen über 65 Jahre 2020: 28 %
Anteil Personen über 80 Jahre 2020: 9 %
(Quelle: Statistisches Landesamt MV, 2005; Prognose Rostocker Zentrum)
Projektpartner:
Bereich stationäre Versorgung
Prof. Dr. Peter Schuff-Werner, Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Rostock (AöR)
T +49 381-494 50 11, E aed@med.uni-rostock.de, http://www.med.uni-rostock.de
Bereich Demografie
Prof. Dr. Gabriele Doblhammer, Geschäftsführende Direktorin des Zentrums zur Erforschung des demografischen Wandels Rostock
T +49 381-498 43 93, E gabriele.doblhammer-reiter@uni-rostock.de, http://www.rostockerzentrum.de
Bereich Epidemiologie und Bereich ambulante Versorgung
Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann, Direktor des Instituts für Community Medicine,
Abt. Versorgungsepidemiologie und Community Health, Universität Greifswald
T +49 3834-86 77 51, E wolfgang.hoffmann@uni-greifswald.de, http://www.community-medicine.de
http://www.klinikum.uni-greifswald.de
Criteria of this press release:
Medicine, Nutrition / healthcare / nursing, Social studies
transregional, national
Miscellaneous scientific news/publications, Research results
German
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