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03/28/2001 15:39

Carl Pietzcker feiert seinen 65. Geburtstag

Rudolf-Werner Dreier Hochschul- und Wissenschaftskommunikation
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau

    Carl Pietzcker feiert seinen 65. Geburtstag

    Carl Pietzcker wird am 3. April 65 Jahre alt. Seit 1976 lehrt er als Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Freiburg. Wer ihn kennt, kann sich kaum vorstellen, dass er noch dieses Jahr in den Ruhestand treten und damit seine reguläre Tätigkeit an der Universität beenden wird. Der ab-laufenden Dienstzeit widerspricht seine Jugendlichkeit, die sich nicht nur in der Distanz zu professoralem Verhalten, sondern auch in einer Einstellung ausdrückt, die das Leben - und das des akademischen Lehrers zumal - als unabschließbaren Lernprozess begreift.

    In seiner akademischen Tätigkeit war für ihn immer ausschlaggebend, ge-schichtliches Wissen in den Kontext gegenwärtiger Erfahrung zu rücken. Hi-storische Erkenntnis ist für ihn deshalb so wichtig, weil sie die Gegenwart er-klären und begreifbar machen kann. Man muss sich der Vergangenheit erin-nern, um verantwortlich in der Gegenwart leben zu können: diese Einsicht hat Pietzckers Denken in mehrfacher Hinsicht geprägt. Sein Geburtsjahr 1936 fällt in die Zeit des Nationalsozialismus - erst allmählich wuchs bei ihm das Bewusstsein, dass zu den zentralen Aufgaben seiner Generation die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit gehört. Die Studen-tenbewegung von 1967/68 war für ihn ein entscheidender Anstoß, den Na-tionalsozialismus nicht nur als deutsches Verhängnis, sondern als geschicht-liches Ereignis zu begreifen, dessen gesellschaftlichen, politischen und psy-chosozialen Ursachen man bis in die geheimen Verästelungen der menschli-chen Psyche nachspüren muss.

    Ob sein Ausflug in die Altphilologie - er promovierte 1966 mit einer Arbeit über die Landschaft bei Vergil - als Umweg anzusehen ist, lässt sich nach-träglich schwer feststellen. Nach seiner Promotion wurde er Assistent für Neuere deutsche Literatur an der Universität Freiburg. Mit der Studentenbe-wegung beginnt das Nachdenken über die Ursachen des deutschen Fa-schismus und über die Konsequenzen, welche die Universitätslehre daraus ziehen sollte. Zusammen mit anderen Kollegen entwirft und erprobt er neue Seminarstrukturen, denen er bis heute treu geblieben ist und die einen Vor-griff auf aktuelle didaktische Prinzipien darstellen. Was man heute als hand-lungsorientierte Didaktik bezeichnet, sollte damals das kritische Bewusstsein der Studierenden schärfen und Hierarchien abbauen. Wie modern die be-schrittenen Wege sind, zeigen neuere Einsichten in die Problematik des "Vermittlungsparadigmas" (also der reinen Vermittlung von Wissen) und in die Vorteile des "Problemlösungsparadigmas" (das die Studierenden als aktiv Handelnde versteht, die sich Lösungswege selbst erarbeiten müssen). Der didaktische Spürsinn, den Pietzcker und seine Kollegen damals entwik-kelten, ist bis heute beispielhaft in einer Hochschullandschaft, die sich nur widerstrebend didaktischen Erfordernissen öffnet. Bis heute hält bei ihm die-ses Interesse an: Seit mehreren Jahren arbeitet er mit der Pädagogischen Hochschule zusammen und veranstaltet Seminare, in denen sich Studieren-de beider Institutionen treffen.

    Ein entscheidender Ausgangspunkt blieb für Pietzcker die Frage, wie For-schung und Lehre auszusehen hätten, die Studierende für die Gefahren tota-litären Denkens und Handelns sensibilisieren können. Dass es neben der "engagierten Literatur" auch eine engagierte Literaturwissenschaft geben müsse, welche die kritische und bewusstseinserweiternde Funktion der Lite-ratur ins Licht setzt, war ein Anspruch, den Pietzcker mit vielen Anderen der 68er Generation teilte. Die Befreiung von einseitig textimmanenten Ansätzen der Literaturinterpretation, die in der Nachkriegszeit dominierten, verband er mit psychoanalytischen Positionen, die die Brüche und Subtexte eines Werks besser erhellen konnten als herkömmliche formanalytische Verfahren. Mit psychoanalytischen Begriffen ließ sich z.B. der eklatante Widerspruch erklä-ren, dass Brecht fast gleichzeitig kaisertreue patriotische Gedichte und ge-sellschaftskritische Lyrik verfasste, und daraus ließen sich Einsichten in die Struktur seines ganzen Werks ableiten. Die Lyrik des jungen Brecht stand auch im Zentrum von Pietzckers Habilitationsschrift, die er weitgehend im Alleingang verfasste: die erste Schrift, die sich des damals noch verpönten psychoanalytischen Begriffsinstrumentariums bediente. Die Entwicklung des jungen Brecht vom anarchischen Dichter zum marxistischen Gesellschafts-kritiker aus literaturpsychologischer Perspektive: kein Wunder, dass diese Arbeit im Jahr 1974 äußerst kontrovers aufgenommen wurde. Legendär wur-de die Äußerung eines Rezensenten, der die Schrift als Irrtum auf hohem Ni-veau bezeichnete.

    Psychoanalyse war für Pietzcker immer ein Instrument der Aufklärung des Menschen, mit dem sich seine "tote", verdrängte Vergangenheit wiederbele-ben lässt: dies schien im Hinblick auf die deutsche Geschichte und ange-sichts des Schweigens, das sie umgab, von außerordentlicher Bedeutung zu sein. Zusammen mit Johannes Cremerius, Wolfram Mauser und Frederick Wyatt gründete er den Arbeitskreis für Literatur und Psychoanalyse, der bis heute weit über die Grenzen Freiburgs hinaus Beachtung findet. Freiburg hat sich seither zu einem Zentrum für literaturpsychologische Forschung entwik-kelt: Die jährlichen Tagungen sind zur festen Institution geworden, ebenso das Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse sicher eines der bleibenden Verdienste Pietzckers und seiner Kollegen.

    Die Liste der Publikationen ist im Verlauf seines Professorenlebens lang ge-worden; ungewöhnlich ist darin die Beschäftigung mit Kinder- und Jugendlite-ratur oder das verstärkte Interesse für Johann Peter Hebel, dem er in der letzten Zeit mehrere Aufsätze und Vorträge gewidmet hat. Wichtig ist, dass Pietzcker die Grenzen der Universität immer wieder überschritten hat: in seiner Vortragstätigkeit im In- und Ausland, auch vor nicht-fachwissenschaftlichem Publikum, in der Kooperation mit dem Freiburger Theater, im Forum Allmende. Durch sein Engagement bei den Freiburger Literaturtagen trat er in Kontakt mit vielen jungen Autorinnen und Autoren und vermied dadurch die Abkapselung der universitären Lehre vom aktuellen Literaturbetrieb. Zusammenarbeit lag ihm von Anfang an am Herzen. Noch heute gibt er seine Manuskripte an zahlreiche Freundinnen und Freunde mit der Bitte um Korrektur und Kritik, bevor er sie publiziert. Ein dialogisches Verständnis von Wissenschaft ist für ihn selbstverständlich.
    Seine Begeisterungsfähigkeit lässt darauf schließen, dass sich hier jemand aus Überzeugung engagiert: orientiert an den Traditionen der Aufklärung und an einer kritischen Theorie des Subjekts, immer noch von der Hoffnung ge-tragen, dass die Menschen vernünftiger und die Gesellschaft gerechter wer-den können. Wenn Pietzcker dieses Jahr in den Ruhestand tritt, wird es kein Ruhestand sein. Mit den beantwortbaren und unbeantworteten Fragen der Literatur und der Gesellschaft wird er sich weiterhin beschäftigen: in Gesprä-chen, im Schreiben, in Vorträgen und in seinem Engagement für die Stadt. Er wird weiterhin das Fahrrad an Stelle des Autos benutzen, der Umwelt zulie-be. Wir wünschen ihm Glück und Gesundheit zum 65. Geburtstag und für die Jahre danach.

    Joachim Pfeiffer


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    Criteria of this press release:
    interdisciplinary
    transregional, national
    Personnel announcements
    German


     

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