Interview mit Armin Schäfer, der am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung die Folgen sinkender Wahlbeteiligung auf die Demokratie erforscht hat
Die Landtagswahlen in Sachsen oder Thüringen, aber auch die Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen haben es wieder einmal deutlich gezeigt: Wie in vielen anderen etablierten Demokratien sinkt auch in Deutschland die Wahlbeteiligung. "Noch nie haben so wenige Bürger ihr Recht zu wählen genutzt wie heute", sagt der Politikwissenschaftler Armin Schäfer. Am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln hat er die Folgen dieses Trends untersucht und sieht Gefahr im Verzug für die politische Gleichheit: "Wir müssen aufpassen, dass nicht Teile der Bevölkerung von der politischen Teilhabe abgekoppelt werden."
Bei den Wahlen in diesem Jahr stagniert oder sinkt die Wahlbeteiligung mit wenigen Ausnahmen. Zeichnet sich ein Szenario für die Bundeswahl ab?
Schäfer: Falls der Trend der vergangenen Jahre anhält, müssen wir auch bei der Bundestagswahl mit einer niedrigeren Wahlbeteiligung rechnen. Bei Kommunal-, Landtags- und Europawahlen sinkt die Wahlbeteiligung seit drei Jahrzehnten. Ein Teil dieser Entwicklung stellt eine Normalisierung gegenüber der ungewöhnlich hohen Beteiligung von um die 80 Prozent in den siebziger Jahren dar. Doch inzwischen liegen wir unter dem Niveau der fünfziger und sechziger Jahre. Bei Landtagswahlen gaben seit dem Jahr 2000 im Durchschnitt nur noch 60 Prozent der Wahlberechtigten die Stimme ab, bei Kommunalwahlen lediglich 54 Prozent. Eine Wahlbeteiligung von unter 50 Prozent ist längst keine Seltenheit mehr. Bundestagswahlen sind bislang weniger stark von diesem Rückgang betroffen, auch wenn die Wahlbeteiligung 2005 fast 13 Prozentpunkte unter der Rekordbeteiligung von 1972 lag.
Liegt Deutschland im internationalen Trend?
Schäfer: Ja, in fast allen entwickelten Demokratien sinkt die Wahlbeteiligung bei Parlamentswahlen - allerdings in unterschiedlichem Tempo und von unterschiedlichem Niveau ausgehend. Während beispielsweise in Belgien, einem Land mit Wahlpflicht, die Beteiligung weiterhin über 90 Prozent liegt, ist sie in der Schweiz niedriger als 50 Prozent. Deutschland liegt bei Bundestagswahlen weiterhin im oberen Drittel. Bei anderen Wahlen nimmt der Anteil der Nichtwähler jedoch ständig zu.
Ihren Aufsatz über die Folgen sinkender Wahlbeteiligung auf die Demokratie haben Sie mit der Frage: "Alles halb so schlimm?" überschrieben - ist das rhetorisch gemeint?
Schäfer: Die rhetorische Frage soll auf die Kurzatmigkeit im Umgang von Medien und Politik mit dem Thema Wahlbeteiligung hinweisen. Fällt die Wahlbeteiligung einmal besonders niedrig aus, wird für ein bis zwei Tage darüber diskutiert, dann verschwindet das Thema von der Tagesordnung. Eine abnehmende Wahlbeteiligung wäre weniger bedenklich, wenn dieser Rückgang durch alle Bevölkerungsschichten ginge. Das ist aber nicht der Fall. Politikwissenschaftliche Studien zeigen einen engen Zusammenhang beispielsweise zwischen Bildung und Einkommen einerseits und der Wahlwahrscheinlichkeit andererseits. Bei einer hohen Wahlbeteiligung fallen diese Faktoren weniger ins Gewicht. Doch eine niedrige ist immer eine sozial ungleiche Wahlbeteiligung. Wir müssen aufpassen, dass nicht Teile der Bevölkerung von der politischen Teilhabe abgekoppelt werden.
Besteht denn diese Gefahr?
Schäfer: Meine Forschung legt dies nahe. Ich habe mir zum Beispiel die Wahlbeteiligung in deutschen Großstädten angeschaut. Hinter den Durchschnittszahlen verbergen sich große Unterschiede. In armen Stadtteilen liegt die Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen bis zu 40 Prozentpunkte unter der in wohlhabenden Stadtteilen. Dort, wo sich soziale Probleme konzentrieren, sinkt die Bereitschaft zum politischen Engagement. Die Höhe der Wahlbeteiligung lässt sich demnach durchaus aus der sozialen Lage eines Viertels ableiten: Je ärmer ein Stadtteil, desto weniger Menschen wählen. Dieser Zusammenhang zeigt sich bei allen Wahlarten und in so unterschiedlichen Städten wie Dresden, Hamburg, Hannover, Köln oder Stuttgart. Zukünftig möchte ich untersuchen, ob die Partizipationsbereitschaft auch von solchen Menschen sinkt, die zwar selbst nicht von Armut oder Arbeitslosigkeit betroffen sind, aber in einem von diesen Problemen geprägten Stadtviertel wohnen.
Was bedeutet die unterschiedliche Wahlbeteiligung für die Demokratie?
Schäfer: Extreme Unterschiede in der Wahlteilnahme gefährden das Prinzip politischer Gleichheit, das den Kern der Demokratie ausmacht. Das hat drei Konsequenzen. Erstens wird die Kommunikation zwischen Wählern und Gewählten verzerrt, wenn sozial Schwache den Wahlurnen fernbleiben. Ihre Interessen drohen vernachlässigt zu werden, wenn sie für den Ausgang einer Wahl zunehmend irrelevant sind. Zweitens beeinflusst die Wahlbeteiligung die Wahlergebnisse. Bei der Kommunalwahl wählten in Köln beispielsweise sehr viel mehr Menschen in Stadtteilen mit niedriger Arbeitslosenquote und hohem Durchschnittseinkommen. Dort schnitten CDU, FDP, aber auch die Grünen besonders gut ab. Sie profitieren von der ungleichen Wahlbeteiligung, während die SPD dort gute Ergebnisse erzielt hat, wo die Wahlbeteiligung niedrig ist. Schließlich schwindet die Legitimationskraft von Wahlen, wenn nur eine Minderheit wählt - was bei Europa- und Kommunalwahlen bereits der Fall ist -, die noch dazu nicht repräsentativ für die Wahlberechtigten insgesamt ist.
Es gibt die These, dass eine niedrige Wahlbeteiligung Ausdruck der Zufriedenheit der Wähler ist. Stimmt das?
Schäfer: Nein, diese These lässt sich nicht halten. Je zufriedener jemand mit der Funktionsweise der Demokratie ist, desto höher ist die Wahlwahrscheinlichkeit. Unzufriedenheit, wie auch Einkommens- und Bildungsarmut mobilisieren nicht, sondern führen häufig zu Resignation. Auch wenn es weiteren Forschungsbedarf gibt, entsteht doch der Eindruck, dass im unteren Drittel der Gesellschaft der Glaube abhanden gekommen ist, Politik könne die eigene Lage verbessern.
Der internationale Vergleich zeigt zudem, dass Menschen in Ländern mit geringer sozialer Ungleichheit zufriedener mit der Demokratie sind und Parlamenten und Politikern stärker vertrauen. Ein Beispiel dafür ist unser nördlicher Nachbar Dänemark. Dort beurteilen die Bürger die Politik viel positiver als dies in Deutschland der Fall ist.
Es wird ja häufig argumentiert, dass sich in der allgemeinen Tendenz der Stimmenthaltung bei Wahlen weniger eine Krise als ein Wandel der Demokratie ausdrückt - ist das so?
Schäfer: Diese These wird auf den ersten Blick durch den Bedeutungszuwachs so genannter "unkonventioneller" Partizipationsformen gestützt. Darunter versteht die Politikwissenschaft Aktivitäten wie etwa die Mitarbeit in Bürgerinitiativen, Unterschriftensammlungen, den direkten Kontakt zu Mandatsträgern oder auch politisch motivierte Produktboykotte. Diese Formen des Engagements haben zugenommen. Da sie häufig mehr persönlichen Einsatz erfordern als das Wählen, wird darin ein Wandel zu einer lebhafteren Demokratie gesehen. Das ist zwar richtig, gilt aber häufig nur für Menschen mit überdurchschnittlichem Einkommen und hoher Bildung. Ich habe anhand von Umfragen untersucht, wie sich politische Aktivitäten über verschiedene Bevölkerungsgruppen verteilen. Dabei zeigt sich, dass die Möglichkeit zu wählen gleichmäßiger genutzt wird als unkonventionelle Beteiligungsformen (Abb. 2). Deshalb ist eine hohe Wahlbeteiligung so wichtig: Nur sie gewährleistet die annähernd gleiche Teilhabe sozialer Gruppen. Politische Aktivitäten, die von relativ wenigen Menschen genutzt werden, sind dagegen immer zu Lasten sozial Schwacher verzerrt.
Demokratie nur noch für Gutsituierte - Würden Sie aus diesen Beobachtungen Aufgaben für Politik oder Gesellschaft ableiten - wenn ja, was würden Sie vorschlagen?
Schäfer: Als erstes wäre es notwendig, dass eine nachhaltige öffentliche Diskussion darüber in Gang kommt, wie man den Rückgang der Wahlbeteiligung stoppen kann. Zweitens sollte man aus meiner Sicht über eine Wahlpflicht nachdenken. Zahlreiche Studien zeigen, dass damit eine gleichmäßig hohe Wahlbeteiligung erreicht werden kann, selbst wenn die Sanktionen bei Nichtwahl gering sind. Am schwierigsten zu verwirklichen ist der dritte Punkt: Die soziale Ungleichheit, die in den letzten Jahre zugenommen hat, muss nicht zuletzt deshalb bekämpft werden, weil sie der Demokratie schadet.
Originalveröffentlichungen:
Anderson, Christopher J./Matthew M. Singer (2008)
The Sensitive Left and the Impervious Right. Multilevel Models and the Politics of Inequality, Ideology, and Legitimacy in Europe
In: Comparative Political Studies 41, 564-599
Schäfer, Armin (2009)
Alles halb so schlimm? Warum eine sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet
In: MPIfG Jahrbuch 2009-2010, 33-38, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln, 33-38
Schäfer, Armin (2009)
Krisentheorien der Demokratie: Unregierbarkeit, Spätkapitalismus und Postdemokratie
In: der moderne staat, 2 (1), 159-183
Solt, Frederick (2008)
Economic Inequality and Democratic Political Engagement
In: American Journal of Political Science 52, 48-60
Weitere Informationen erhalten Sie von:
Christel Schommertz
Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln
Tel.: +49 221 2767 - 130
E-Mail: schommertz@mpifg.de
http://www.mpg.de/bilderBerichteDokumente/dokumentation/jahrbuch/2009/gesellscha... - Alles halb so schlimm? Warum eine sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet
Armin Schäfer ist Politikwissenschaftler und arbeitet seit 2001 am Max-Planck-Institut für Gesellsch ...
Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung
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Demokratische Beteiligungsformen und Repräsentationsindex: Angegeben ist der nach Bildungsabschluss ...
ALLBUS 2008, ZA-Nr. 4600
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Criteria of this press release:
Politics, Social studies
transregional, national
Research results, Scientific Publications
German
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