Kassel. Schlechte Führung macht Mitarbeiter krank. Die Zahl der psychischen Erkrankungen unter Arbeitnehmern hat sich seit 1990 verdreifacht, meldet der Gesundheitsreport des Bundesverbands der Betriebskrankenkassen (BKK) 2009. Zehn Prozent aller Arbeitsunfähigkeitstage sind darauf zurückzuführen. Die Hälfte davon steht in direkter Verbindung mit dem Führungsverhalten. Das hat verheerende Folgen für Personal, Betriebe und die deutsche Volkswirtschaft, weiß Prof. Dr. Oliver Sträter, Leiter des Fachgebiets Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Kassel. Er erforscht den Zusammenhang von Führungsverhalten und Arbeitsproduktivität.
Fehlzeiten infolge psychischer Belastung am Arbeitsplatz mindern das Bruttoinlandsprodukt um fünf Milliarden Euro jährlich. „Die Zunahme dieser Erkrankungen ist nur die Spitze des Eisbergs", sagt Sträter. Auf schlechte Führung zurückzuführen seien außerdem Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, des Verdauungssystems, des Muskel-Skelett-Systems. In der BKK-Statistik nicht mitgezählt sind alltägliche Reaktionen auf schlechte Führung: Dienst nach Vorschrift, innere Kündigung, mangelnde Kreativität. „Das führt zusätzlich zu Produktivitätseinbußen", erklärt Sträter. Spitzenreiter der Statistik sind Organisationen, in denen tendenziell rigide Führungsmechanismen herrschen. Dazu zählen der öffentliche Dienst und Verwaltung, das Gesundheitswesen und das Versicherungsgewerbe.
Warum Führung krank machen kann
Aus der Grundlagenforschung ist bekannt, dass der Mensch über einen bei allen Personen gleich ablaufenden Verarbeitungszyklus verfügt. Dieser wirkt auch in Führungssituationen. Stetig vergleichen Vorgesetzte sowie Mitarbeiter Handlungen, Erfahrungen und Wahrnehmungen anderer Personen mit den eigenen - und das im 100-Millisekunden-Takt. Gibt es Unterschiede, löst der so genannte „zentrale Vergleicher" im limbischen System negative Emotionen aus. Folglich bewertet der Vorgesetzte die Leistung seiner Mitarbeiter schlecht, obwohl dies nicht der Fall ist. „Die vegetative Steuerung des Menschen durch das emotionale und kognitive System bei Führungsverhalten wird unterschätzt", sagt Sträter.
Ein Beispiel: Ein Vorgesetzter erteilt einen Arbeitsauftrag an einen Mitarbeiter. Dieser stellt den Auftrag seinen Erfahrungen gegenüber. Der Mitarbeiter stellt fest, dass diese dem Auftrag widersprechen und teilt die Bedenken seinem Vorgesetzten mit. Der Chef nimmt das wahr und vergleicht die Aussagen des Mitarbeiters mit seinen. Weil er selbst auf andere Erfahrungen zurückgreift, kommt es zu einem inneren Ungleichgewicht. Nun hat der Vorgesetzte zwei Möglichkeiten, das Missverhältnis zu lösen: 1. Er entscheidet, den Widerspruch zu verstehen und den Mitarbeiter in die Entscheidung mit einzubinden. 2. Er stellt die eigenen Erfahrungen über die des Mitarbeiters und weist an, den Auftrag wie gefordert auszuführen.
Der „Lidl-Effekt": Kontrolle statt Vertrauen und Toleranz
Die erste Entscheidung entspricht gesunder Führung. Vorgesetzter und Mitarbeiter klären Widersprüche und gelangen gemeinsam zu einer Lösung, die beide zufrieden stellt. „In 70 Prozent der Fälle entscheidet sich die Führungskraft jedoch für den zweiten Weg", weiß Sträter aus seinen Studien in verschiedenen Unternehmen. Der Mitarbeiter ist gezwungen, die Diskrepanz anders zu verarbeiten. Wie ein Blitzableiter lenkt er das Ungleichgewicht auf sein vegetatives System. Als Folge der Frustration steigt die Herzrate, er verbringt schlaflose Nächte, beschwert sich bei Kollegen.
Damit setzt sich eine Spirale in Gang. Der Mitarbeiter zieht sich in die innere Kündigung oder Krankheit zurück, während das Misstrauen des Chefs wächst. Seinen Ärger kompensiert er durch Kontrolle. Sträter bezeichnet das als „Lidl-Effekt": Der Vorgesetzte überprüft den Mitarbeiter immer stärker, um ihn in die „richtige Bahn" zu leiten und bewertet ihn zunehmend negativer. Der Druck auf den Mitarbeiter steigt. Beide geraten in einen emotionalen Zustand, dem sie nur noch vegetativ begegnen können.
Zug anstelle von Druck
Der Grund für unheilvolles Führen (z. B. Zeitdruck) sei oft ein systemisches Problem der gesamten Organisation, führt Sträter aus. Dies kann nicht allein durch Trainings der Führungskräfte gelöst werden; der ganze Betrieb muss seine Führungsprinzipien überdenken. „Führen wird oft mit Kontrolle verwechselt", sagt der Kasseler Arbeitspsychologe. Viele Vorgesetzte unterschätzten die Loyalität und das Potenzial ihrer Mitarbeiter. Statt eigene Erfahrungen in den Vordergrund zu stellen, sieht Sträter die Lösung darin, Erfahrungen und Konzepte der anderen zu verstehen und erst dann mit eigenen Zielen abzugleichen. So zieht der Vorgesetzte das Personal über seine Ziele und Erfahrungen in das gewünschte Verhalten. Zur gesunden Kommunikation eignet sich nach Sträters Forschung besonders das GROW-Modell (Goals-Reality-Options-Will): Die Führungskraft erfragt Bedenken des Mitarbeiters, gleicht diese mit eigenen Zielen ab. Dann erstellt er Optionen, die beiden Seiten gerecht und verbindlich festgelegt werden. Das macht Führung gesund - und damit Betriebe produktiver und sicherer.
dm
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Info
Prof. Dr. Oliver Sträter
tel (0561) 804 4210
e-mail straeter@uni-kassel.de
Universität Kassel
Fachgebiet Arbeits- und Organisationspsychologie
Prof. Dr. Oliver Sträter
Foto: O. Sträter
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Criteria of this press release:
Psychology
transregional, national
Research results
German
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