Mitte Juni ist der dritte nationale Bildungsbericht „Bildung in Deutschland 2010“ in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Er wurde von einer unabhängigen Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Auftrag der Kultusministerkonferenz (KMK) und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) erstellt. Das Deutsche Jugendinstitut gehört dem Konsortium Bildungsberichterstattung an und ist damit maßgeblich an der Erstellung des Berichts beteiligt. Anlässlich dieser aktuellen Bestandsaufnahme des deutschen Bildungswesens beleuchtet DJI Online, wie den zentralen Herausforderungen begegnet werden kann.
DJI-Direktor Prof. Dr. Thomas Rauschenbach verweist auf die Vorzüge der indikatorengestützten Konzeption des Berichts und betont, dass mit diesem interdisziplinär erstellten Monitoring aller Bildungsinstitutionen und -akteure eine neue Kultur und Qualität von Selbstbeobachtung vor Ort entstanden sei, die Deutschland in Sachen Bildung gut tue. Dafür spreche auch die wachsende Zahl von regionalen und lokalen Bildungsberichten.
Die Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern des Bildungssystems wächst
Trotz positiver Entwicklungen in einzelnen Bereichen bestätigt der Bildungsbericht 2010 vor allem einen sich fortsetzenden hoch ambivalenten Trend. „Zum einen die Tendenz, dass über die Alterskohorten hinweg festzustellen ist, dass die Kinder im Schnitt besser ausgebildet sind als die Eltern-Generation. Zum anderen gibt es eine Gruppe, die an dieser Aufwärtsspirale nicht teilhat“, so Rauschenbach gegenüber DJI Online. „Das ist in meinen Augen das massivste Problem, das wir in Deutschland haben“, denn so werde die Kluft zwischen Auf- und Absteigern im Bildungssystem immer größer.
Bekannte und weniger bekannte Verlierer
Eine bekannte Gruppe, die zu den Verlierern im deutschen Bildungssystem gehört, ist die der jungen türkischstämmigen Männer aus bildungsfernen Elternhäusern und Milieus.
Doch auch eine nicht zu vernachlässigende Zahl von Mädchen mit türkischem Migrationshintergrund verfügen laut Rauschenbach über keinerlei berufliche Ausbildung. Zudem verschwänden viele von ihnen beinahe unbemerkt vom Bildungsradar – offenbar im Zuge einer Re-Familialisierung oder Re-Privatisierung.
Für mehr als 80 Prozent der Kleinkinder besteht immer noch keine Möglichkeit, einen Krippenplatz zu nutzen
Gegenstand des Bildungsberichts ist auch, wie die Forderung nach möglichst frühzeitigen Bildungsanstrengungen, zum Beispiel durch die Förderung in öffentlichen Kindertageseinrichtungen, umgesetzt wird. Allerdings ist der zu beobachtende Anstieg der Krippenplatz-Quote von 6 auf 12 Prozent noch sehr gering. Denn de facto besteht damit immer noch für mehr als 80 Prozent der Kleinkinder keine Möglichkeit, eine solche Einrichtung zu nutzen.
Die Sprachförderung, die im Vorschulalter zunehmend sowohl Kindern mit Migrationshintergrund als auch Kindern ohne Migrationshintergrund zu Teil wird, ist Rauschenbach zufolge ein Schritt in die richtige Richtung, auch wenn sie noch nicht „sonderlich souverän“ gehandhabt wird. Für bundeseinheitliche Standards sei es allerdings wegen mangelnder Evaluationsstudien derzeit noch zu früh.
Bildung ist mehr als Schule
Über die enorme Bedeutung einer frühen intensiven sprachlichen Förderung hinaus gibt es laut Rauschenbach weitere wesentliche Voraussetzungen für eine mehr oder weniger erfolgreiche Teilnahme am Bildungsgeschehen. So z.B. „die grundlegende Einsicht, dass Bildung sowie die eigene berufliche Qualifizierung bedeutende Werte sind.“ Daher sei es wichtig, den Blick nicht allein auf den Klassenraum, sondern noch viel stärker auf den Kern der Lebensführung und der Lebensstile zu richten und Kinder und Jugendliche über den Kindergarten, die Peers, die außerschulische Bildungsarbeit oder die Ganztagsschule zu erreichen .
Die offenen Ganztagesangebote, die immerhin 42 Prozent der Schulen laut Bildungsbericht heute bereit stellen, werden derzeit jedoch noch unterproportional genutzt. Daher fordert Rauschenbach, die Ganztagsschule mit viel mehr Verve konzeptionell, strukturell, personell und finanziell deutlich weiterzuentwickeln. Nur so könne die bereits im 12. Kinder- und Jugendbericht formulierte notwendige Trias „Bildung + Betreuung + Erziehung“ als Chance für mehr Bildungsgerechtigkeit auch ergriffen und genutzt werden.
Bildungsausgaben sind Investitionen mit hoher Rendite
Dass die für ein funktionierendes Bildungssystem notwendigen Ausgaben keine konsumtiven Ausgaben sind, „sondern eine ausgesprochen lohnende Investition in die Zukunft dieser Gesellschaft – auch wenn die Renditen erst langfristig sichtbar werden“, wie Rauschenbach unterstreicht, belegt Prof. Dr. Susan Seeber (Georg-August-Universität Göttingen) in ihrem Beitrag für DJI Online über die Erträge des Bildungssystems.
Die wirtschaftlichen Vorteile von Bildung für die Gesellschaft äußerten sich nicht nur in der Deckung des künftigen Arbeitskräftebedarfs. So zeigten die staatlichen Ertragsraten für einen tertiären Abschluss, dass die öffentliche Hand von Bildungsinvestitionen im sekundären, aber insbesondere im tertiären Bereich nennenswert profitiert. Zu den wichtigsten Faktoren für diese positive Bilanz zählten die höheren Steuereinnahmen und Sozialbeiträge, aber auch die geringeren sozialen Transferkosten, die den gesellschaftlichen Ausbildungskosten gegenübergestellt werden. „Personen ohne beruflichen Abschluss sind dreimal so oft nicht erwerbstätig wie Hochschulabsolvent/inn/en, sie sind wesentlich stärker von regionalen Disparitäten des Arbeitsmarkts betroffen als Personen mit beruflichem Abschluss oder Hochschulbildung, und sie scheiden deutlich früher aus dem Erwerbsleben aus als beruflich qualifizierte Personen“, so Seeber.
Stärkere Entkopplung von hohem Bildungsniveau und sozialer Herkunft
Wie groß der Handlungsbedarf ist, bestätigen die aktuellen Arbeitsmarktprojektionen, die laut Seeber weiterhin von einem tendenziellen Anstieg der Beschäftigtenzahl mit Fachhochschul- und Hochschulausbildung und von einer etwa auf dem gegenwärtigen Niveau konstanten Nachfrage nach Personen ausgehen, die über einen beruflichen Abschluss verfügen. Hingegen werden für Personen ohne beruflichen Abschluss – trotz sinkendem Erwerbspersonenpotenzial – auch künftig die Risiken am Arbeitsmarkt besonders hoch bleiben, denn der Anteil an Arbeitsplätzen für an- und ungelernte Personen wird weiter abnehmen. Betroffen sind davon verstärkt Menschen mit Migrationshintergrund. Während 1,5 Prozent der Personen ohne Migrationshintergrund über keinen allgemeinen Abschluss verfügen, ist dieser Anteil bei Personen mit Migrationshintergrund insgesamt beinahe zehnmal so hoch (13 Prozent). Noch deutlicher sind die Differenzen der Personen ohne beruflichen Abschluss: Hier stehen 11 Prozent einem Anteil von 39 Prozent gegenüber. Deshalb ist für unser Bildungssystem eine stärkere Entkopplung von hohem Bildungsniveau und sozialer Herkunft relevant.
http://www.dji.de/thema/1007
http://www.bildungsbericht.de
Criteria of this press release:
Economics / business administration, Language / literature, Politics, Social studies, Teaching / education
transregional, national
Research results, Scientific Publications
German
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