Welches Kind wird später in der Schule Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben haben? Um das voraussagen zu können, wurde seit den 90er Jahren ein bestimmtes Testverfahren angewendet, das auch Grundlage von Förderzuweisungen für Kindergarten- und Schulkinder war. Das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL) an der Universität Ulm hat dieses Testverfahren, genannt Differenzierungsprobe, in einer Studie mit 1.441 Grundschülern überprüft. Das Ergebnis: Der Test hat kaum Vorhersagekraft. Nach Ansicht von Hirn- und Bildungsforscher Prof. Dr. Manfred Spitzer, Leiter des ZNL, ist diese unzureichende wissenschaftliche Fundierung ein Grund für mangelnden Erfolg im Bildungswesen.
„Wir wollten herausfinden, ob ein Test, der so weit verbreitet ist, tatsächlich fundierte Vorhersagen über spätere Lese- und Schreibschwächen macht. Schließlich werden deutschlandweit Kinder nach diesen Testergebnissen gefördert oder auch nicht gefördert“, beschreibt Michael Fritz, Geschäftsführer des ZNL, die Motivation für die von der Baden-Württemberg Stiftung über die Zukunftsoffensive III finanzierte jetzt veröffentlichte Studie (DOI: 10.1026/0049-8637/a00023).
Die Differenzierungsprobe prüft in verschiedenen Schwierigkeitsgraden, ob Kinder z. B. unterschiedliche grafische Elemente, Wörter, Rhythmen oder Melodien unterscheiden können, da diese Unterscheidungsfähigkeit als eine Voraussetzung für das Lesen- und Schreibenlernen gilt. 1.441 Kinder aus Baden-Württemberg und Bayern wurden vor der Einschulung, zu Beginn und Ende der ersten und am Ende der zweiten Klasse mit dem Verfahren der Differenzierungsprobe und weiteren Begleiterhebungen getestet. Durchgeführt wurden die aufwändigen Testreihen an 53 Schulen mit Unterstützung des Staatlichen Seminars für Didaktik und Lehrerbildung Laupheim.
„Unsere Studie zeigte zu unserer eigenen Überraschung, dass die Differenzierungsproben keine wissenschaftlich ausreichende Vorhersagegüte haben. So entwickelte beispielsweise nur jedes vierte als Risikokind klassifizierte Kind später tatsächlich Probleme beim Lesen. Gleichzeitig waren drei Viertel der Kinder, die am Ende der zweiten Klasse Probleme im Lesen oder Rechtschreiben hatten, nicht als Risikokinder eingestuft worden“, erläutert Fritz.
In Deutschland werden immer noch häufig Verfahren eingesetzt, die nicht nach wissenschaftlichen Standards entwickelt und überprüft wurden, gleiches gilt für Lernmethoden oder Bildungsprogramme.
Der Hirn- und Bildungsforscher Prof. Dr. Manfred Spitzer fordert daher nach dem Beispiel der Medizin mehr wissenschaftliche Evidenz im Bildungsbereich. „Die Situation ist eigenartig: Wenn es um Medizin geht, vom Zahnweh bis zur Krebstherapie, gelten klare Richtlinien für das, was zu tun ist. Wer eine neue, teure Therapie einführen will, kann dies nur tun, wenn er den wasserdichten Nachweis erbringt, dass sie tatsächlich besser ist als die alte. Wenn es dagegen darum geht, wie wir unsere Kinder unterrichten sollten, dann bemühen wir nicht die wissenschaftliche Methode des systematischen Fragens und Forschens.“ In seinem gerade erschienenen Buch „Medizin für die Bildung“ fordert er, die Bildungslandschaft in Deutschland durch eine evidenz-basierte Pädagogik in eine bessere Zukunft zu führen (Manfred Spitzer: Medizin für die Bildung. Ein Weg aus der Krise. Spektrum Verlag).
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