Bochum, 23.01.1998 Nr. 19
Sozialpfarrer im Blickfeld Protestantismus und Sozialstaat Ergebnisse einer Tagung an der RUB
Der Protestantismus hat einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung des deutschen Sozialstaates geleistet. Gerade in der Zeit der Weimarer Republik hat er durch die Einrichtung von Sozialpfarrämtern und anderen Arbeitsformen im Blick auf die sozialpolitischen Diskussionen eine konstruktive Rolle gespielt. Dieses Fazit zog Prof. em. Dr. Günter Brakelmann (Christliche Gesellschaftslehre, Evangelisch-Theologische Fakultät der RUB) auf einer Tagung in der RUB (17./18. Januar). Dreißig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus ganz Deutschland beschäftigten sich mit der Bedeutung des sozialen Protestantismus in der Weimarer Republik.
"Sozialpfarrer" - Beginn in der Weimarer Republik
Im Mittelpunkt der interdisziplinär ausgerichteten Tagung stand die Errichtung von Sozialpfarrämtern, wie sie mit unterschiedlichem Profil im Rheinland, in Westfalen, in Berlin-Brandenburg, in Thüringen und in Baden aufgebaut worden sind. Waren es vor 1918 vornehmlich einzelne Pfarrer Theologen und Professoren sowie kirchliche Vereine, die sich den sozialen Problemen theoretisch oder praktisch annahmen, so änderte sich dies in der Weimarer Republik. Den ersten Sozialpfarrer gab es seit 1921 in der Rheinischen Provinzialkirche mit Pfarrer Wilhelm Menn. Nur 2 Jahre später folgte die Westfälische Landeskirche, wo Reinhard Mumm seit 1923 ein entsprechendes Amt innehatte.
Neue Sicht auf Martin Niemöllers Wirken
In Westfalen war auch Martin Niemöller als Geschäftsführer der Inneren Mission tätig. Niemöller, bisher als Mann des Kirchenkampfes und als Streiter gegen die Wiederbewaffnung bekannt, erscheint nach der Tagung in einem etwas anderen Licht, war seine Tätigkeit in Westfalen doch von dem zielstrebigen Bemühen um den Aufbau einer professionellen kirchlichen Sozialarbeit geprägt. Dies führte allerdings auch zu einer neuen Herausforderung für die Kirche und ihre Verbände, da sie nun zu einem großen Arbeitgeber geworden war und sich im eigenen Bereich mit der Gestaltung von Arbeitsverhältnissen zu befassen hatte. Ein bis heute noch nicht in allen Bereichen gelöstes Problemfeld.
Für und wider Arbeitsdienst
Insgesamt bot die Tagung elf Vorträge zu verschiedenen Themenbereichen. Neben den Sozialpfarrämtern wurden auch einige Konfliktfelder des sozialen Protestantismus behandelt. So gab es beispielsweise im Protestantismus eine breite Diskussion um die Einführung eines Arbeitsdienstes. Was zunächst auf freiwilliger Basis geplant war, wurde dann von den Nationalsozialisten zum Zwang gemacht. Ein weiterer Vortrag galt dem religiösen Sozialisten Georg Wünsch, der den ersten Lehrstuhl für Sozialethik in Deutschland inne gehabt hat.
Vorläufer der Sozialstaatdiskussion
Insgesamt hat die Tagung das Bild eines sehr differenzierten sozialen Protestantismus gezeigt. Die in der bisherigen Forschung weitgehend übersehene Zeit der Weimarer Republik hat sich als ausgesprochen reichhaltig erwiesen. Das Vorurteil, die Kirche habe sich nicht um die sozialen Belange der Gegenwart gekümmert, stimmt so nicht. Vielmehr finden wir viele Vorläufer der Sozialstaatsdiskussion der Bundesrepublik in der Weimarer Republik. Und der Anteil von Protestanten, die praktische Sozialarbeit leisteten und die zukunftsweisende Konzepte entwickelten, war nicht gering. Wenn heute in der öffentlichen Diskussion der Sozialstaat und innerkirchlich die Relevanz von Sozialpfarrämtern verteidigt werden muß, so kann uns ein Blick in die Geschichte der Weimarer Republik viele Argumente liefern.
Weitere Informationen
Dr. Norbert Friedrich, Dr. Traugott Jähnichen, Ruhr-Universität Bochum, Evangelisch-Theologische Fakultät, 44780 Bochum, Tel. 0234/700-6874; -4805, Fax: 0234/7094-106, email: "Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre" evsys3@rz.ruhr-uni-bochum.de
Criteria of this press release:
History / archaeology, Social studies
transregional, national
Research projects
German
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