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06/09/2011 10:30

Warum sind Gesellschaften streng oder tolerant? Neue Studie zu Ursachen für kulturelle Unterschiede

Dr. Kristin Beck Corporate Communications & Media Relations
Jacobs University Bremen

    Warum kann man sich in den meisten Ländern Europas problemlos öffentlich küssen, während sich dies in Singapur oder Japan nicht ziemt? Warum sind Demonstrationen in Deutschland eine akzeptierte Formen bürgerlichen Protests während in China die Teilnahme meist streng geahndet wird? Warum respektieren Ostdeutsche beim Überqueren der Straße ein rotes Ampelmännchen eher als Westdeutsche? Ein internationales Forscherteam hat in einer 32 Länder umfassenden Studie die Gründe dafür untersucht, warum manche Gesellschaften mehr und andere weniger tolerant sind gegenüber Verhalten, das von der Norm abweicht. Die Ergebnisse wurden jetzt in „Science“ (DOI: 10.1126/science.1197754) publiziert.

    Das Forscherteam, unter ihnen auch Klaus Boehnke, Professor für sozialwissenschaftliche Methodenlehre an der Jacobs University und Co-Autor der Studie, führte insgesamt gut 6.800 Interviews in 32 Ländern mit Personen unterschiedlichsten sozialen Status, um ein Maß dafür zu entwickeln, wie streng bzw. tolerant die jeweilige Gesellschaft empfunden wird, in der die Befragten leben. Gefragt wurde beispielsweise nach Verhalten in verschiedenen öffentlichen Situationen, das als angemessenem bzw. unangemessenem gilt, ebenso, wie danach, wie die Befragten auf unangemessenes Verhalten reagieren, oder wie genau sie wissen, welches Verhalten von ihnen erwartet wird.

    Innerhalb der untersuchten Länder führt Pakistan die Liste der als restriktiv empfundenen Gesellschaften an, gefolgt von Malaysia, Singapur und Südkorea. Zu den tolerantesten Ländern der Studie zählen Estland, Ungarn, Israel, die Niederlande und Brasilien. Den vordersten Platz belegt – zur Überraschung der Forschergruppe – die Ukraine. Deutschland gehört laut Studie nicht zu den Spitzenreitern in Sachen Toleranz: Westdeutschland belegte Rang 18 und Ostdeutschland, das getrennt untersucht wurde, sogar nur Rang 23 unter den insgesamt 33 Einzelbefunden.

    Um zu verstehen, welche Ursachen dem unterschiedlichen Maß an Toleranz bzw. Strenge in den verschiedenen Ländern zugrunde liegen, korrelierten die Wissenschaftler ihre Befunde mit verschiedenen gesellschaftlichen, politischen und geografischen Faktoren. Einen starken Zusammenhang mit einer restriktiven Handhabung von Normen fanden die Forscher für solche Faktoren, die das Leben in der Gemeinschaft auf Dauer belasten oder bedrohen, wie beispielsweise knappe Ressourcen und hohe Bevölkerungsdichten sowie häufige Naturkatastrophen, kriegerische Auseinandersetzungen oder Krankheiten. Zudem zeigten Länder mit strenger sozialer Normierung auch eine starke Tendenz zu politischer Repression durch autokratischen Regierungsformen, Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit sowie einem Rechtssystem mit besonders harten Strafen, einschließlich der Todesstrafe.

    Eine Gesellschaft, die konstant Bedrohungen ausgesetzt ist, so die Ergebnis-Interpretation der Autoren, neigt offenbar dazu, regelkonformes Verhalten mit Härte durchzusetzen, um diesen Bedrohungen – durch Menschen verursachten ebenso wie natürlichen – durch uniformes Verhalten möglichst effizient begegnen zu können

    Inwieweit Toleranz oder Strenge Bestandteil einer Kultur werden, scheint jedoch nicht nur aktuellen Einflüssen zu unterliegen. So fanden die Forscher beispielsweise eine hochsignifikante Korrelation zwischen der Bevölkerungsdichte von vor 500 Jahren und dem Grad der gesellschaftlichen Strenge in dem jeweils untersuchten Land: Je höher die Einwohnerzahl zum damaligen Zeitpunkt umso intoleranter die Gesellschaft in den Augen der heutigen Bewohner.

    „Die Prozesse, die zur dauerhaften psychologischen Verankerung von Normen in der Gesellschaft führen, beispielsweise die Sozialisierung durch Tradition, Erziehung, Schule oder Religion, sind mitunter ausgesprochen langsam und können sich über viele Generationen hinziehen“, kommentiert Klaus Boehnke diesen Befund. „Dass Ostdeutschland von seinen Bewohnern als sehr restriktiv empfunden wird und so nach wie vor seinem Ruf als ‚das Preußen unter den vormaligen Ländern des real-existierenden Sozialismus‘ gerecht wird, hängt daher sicherlich auch mit längerfristige Nachwirkungen der unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen in Ost- und Westdeutschland zusammen. Im Osten wurden Normverletzungen – anders als in der Zeit seit Ende der 60-er Jahre in Westdeutschland – wesentlich stärker sanktioniert“, so der Jacobs-Forscher.

    Das Ranking der 33 Einzelbefunde (vom tolerantesten zum strengsten Land):

    Ukraine, Estland, Ungarn, Israel, die Niederlande, Brasilien, Venezuela, Neuseeland, Griechenland, Australien, die USA, Spanien, Belgien, Polen, Hongkong, Frankreich, Island, Westdeutschland, Italien, Österreich, Großbritannien, Mexiko, Ostdeutschland, Portugal, China, Japan, Türkei, Norwegen, Südkorea, Singapur, Indien, Malaysia, Pakistan.

    Fragen zu der Studie für die Jacobs University beantwortet:

    Klaus Boehnke | Professor of Social Science Methodology
    Email: k.boehnke@jacobs-university.de | Tel.: +49 421 200-3401


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    Criteria of this press release:
    Journalists, Scientists and scholars
    Cultural sciences, Psychology, Social studies
    transregional, national
    Research results
    German


     

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