idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instance:
Share on: 
05/28/1998 00:00

Beschreibung der Welt: Poetik der Reise- und Länderberichte

Ulrich Thimm Presse, Kommunikation und Marketing
Justus-Liebig-Universität Gießen

    Wer in der Germanistik über Reiseberichte forscht, betritt ausgetretene Pfade. Bisher noch kaum in Angriff genommen wurde dagegen ein Vergleich der Reiseliteratur aus verschiedenen Kulturkreisen.

    Wer in der Germanistik über Reiseberichte forscht, betritt ausgetretene Pfade. Bisher noch kaum in Angriff genommen wurde dagegen ein Vergleich der Reiseliteratur aus verschiedenen Kulturkreisen. Prof. Dr. Xenja von Ertzdorff-Kupffer vom Institut für deutsche Sprache und mittelalterliche Literatur der Universität Gießen lädt deswegen ein zu einem Symposium

    "Beschreibung der Welt: Zur Poetik der Reise- und Länderberichte" vom 8. bis 13. Juni 1998 im Senatssaal des Hauptgebäudes der Universität Gießen, Ludwigstraße 23.

    "Gallia divisa est in partes tres." Wenn etwas aus dem Lateinunterricht im Gedächtnis haften bleibt, dann vielleicht der erste Satz aus dem "Gallischen Krieg". Caesar beschreibt eine neue Landschaft, indem er sie gegen die Nachbarn abgrenzt; er gibt ihr und den Bewohnern einen Namen, vergleicht mit dem, was er aus seinem Kulturkreis kennt. Spätestens bei Plinius dem Älteren im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung stehen die Erzählschemata für Reise- und Länderberichte fest, und dessen "Historia Naturalis" dient dann das ganze Mittelalter hindurch als Vorlage. Fast allen Berichten ist gemeinsam, was Prof. von Ertzdorff-Kupffer "an den historischen Schauplätzen das Fenster öffnen" nennt. Nicht der Weg ist berichtenswert, sondern das Ziel, das durch Rückgriffe auf die Geschichte mit Bedeutung aufgeladen wird. So erscheinen dem christlichen Pilger im Heiligen Land nicht die Zeitgenossen erwähnenswert, sondern er zitiert aus der Bibel, was am jeweiligen Ort geschehen ist. Charakteristisch ist auch der rasche Wechsel der Schauplätze, um den Leser zu fesseln.

    Warum gibt es diese festen Erzählraster, fragt die Germanistikprofessorin. Könnte man Reise- und Länderberichte auch anders abfassen, oder verbergen sich hinter den Schemata gar anthropologische Konstanten? Warum ist dann etwa aus Indien die Literaturgattung der Reiseberichte völlig unbekannt? Germanisten sind unter den Referenten ihres Symposiums in der Minderheit, Prof. von Ertzdorff-Kupffer hat vielmehr Gräzisten und Latinisten, Romanisten und Anglisten, Orientalisten und Sinologen eingeladen. Der Bericht eines chinesischen Mönchs auf Pilgerreise fällt anscheinend nicht sehr viel anders aus als der eines byzantinischen Kollegen.

    Dieselben Erzählstrukturen finden sich in fiktiven Reiseberichten wieder. Mandeville hat seine Reise ins Heilige Land und weiter nach Osten bis nach Peking, die er angeblich im 14. Jahrhundert absolviert hat, bei zwei anderen Autoren abgeschrieben. Entscheidend für die Wirkung des mittelalterlichen Bestsellers war die Glaubwürdigkeit des Verfassers. Später geriet sein Reisebericht als Lügengeschichte in Verruf.
    Heute noch diskutiert wird, wie weit Marco Polo seine Reise in die Mongolei selbst erlebt haben kann. Sie beruht ohne Zweifel auf Tatsachenmaterial, aber es ist nicht einmal bekannt, ob uns die Originalfassung vorliegt. Als Gefangener in Genua soll er auf Französisch seine Reise einem "Rusticiano" oder "Rusticello" aus Pisa erzählt haben. Später erscheint eine lateinische Übersetzung. Geht sie auf eine - vielleicht venezianische - Urfassung zurück, wie die Mainzer Romanistin Prof. Barbara Wehr meint? Dann wäre schon die französische Fassung eine nach höfischen Konventionen umgestaltete Übersetzung.

    Neugier hat im Mittelalter einen schlechten Leumund. Reiseberichte dienen deswegen nicht zur Belehrung, wie die Bibel, sondern als Lektüre für Mußestunden und werden dem auftraggebenden Fürsten ausdrücklich auch so gewidmet. Was uns modern erscheint, muß nicht modern sein. So ist schon einer der frühesten Pilgerberichte ins Heilige Land von einer Dame namens Egeria in der Ich-Form gehalten. In der Moderne kann der Bericht persönlicher werden, muß es aber nicht.

    Ab dem 13. Jahrhundert werden die Berichte ausführlicher. Als sich in der Neuzeit mehr Menschen das Reisen leisten können, erscheinen die ersten Reiseführer, die auch touristische Tips geben. Allmählich differenzieren sich weitere Literaturgattungen aus. Waren früher in einem Reisebericht Pilgerfahrt, völkerkundliche Studie, Reiseführer und naturkundliche Untersuchung verbunden, so entstehen jetzt selbständige Wissensgebiete mit eigenen literarischen Regeln. Eine Innovation sind auch die bildlichen Darstellungen. Eine Stadt wie Byzanz wird zunächst dermaßen stereotyp dargestellt, daß nicht viel mehr als das Idealbild einer Stadt zu erkennen ist. Später nehmen Schriftsteller ihre eigenen Zeichner mit auf die Reise, dann gewinnen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Bilder durch die Erfindung der Fotografie noch mehr an Gewicht. Der vorläufige Schlußpunkt sind die "coffee table books", teuere Bildbände, wohlgefällig anzuschauen, in denen der Text kaum noch eine Rolle spielt. Dann wird das Verhältnis von Text und Bild neu bestimmt, eine neue Poetik ist zu beschreiben. Sie ist aber nicht mehr Thema dieses Symposiums.

    Kontaktadresse (nicht zur Veröffentlichung bestimmt):

    Prof. Dr. Xenja von Ertzdorff-Kupffer
    Institut für deutsche Sprache und mittelalterliche Literatur
    Otto-Behaghel-Straße 10
    35394 Gießen
    Telefon (0641) 99-29035
    Fax (0641) 99-29049


    Images

    Criteria of this press release:
    Language / literature
    transregional, national
    Miscellaneous scientific news/publications, Research projects, Scientific conferences
    German


     

    Help

    Search / advanced search of the idw archives
    Combination of search terms

    You can combine search terms with and, or and/or not, e.g. Philo not logy.

    Brackets

    You can use brackets to separate combinations from each other, e.g. (Philo not logy) or (Psycho and logy).

    Phrases

    Coherent groups of words will be located as complete phrases if you put them into quotation marks, e.g. “Federal Republic of Germany”.

    Selection criteria

    You can also use the advanced search without entering search terms. It will then follow the criteria you have selected (e.g. country or subject area).

    If you have not selected any criteria in a given category, the entire category will be searched (e.g. all subject areas or all countries).