Ein Zufallsbefund aus der AIDS-Forschung könnte schon bald die Gen- und Stammzellforschung voranbringen. Vor einigen Jahren haben Wissenschaftler um die Ulmer Professoren Jan Münch und Frank Kirchhoff in Zusammenarbeit mit der Peptidforschungsgruppe von Professor Wolf-Georg Forssmann an der Medizinischen Hochschule Hannover festgestellt, dass Bruchstücke eines Proteins im menschlichen Sperma faserartige Strukturen ausbilden, so genannte Amyloidfibrillen.
Diese „klebrigen Stäbchen“, im konkreten Fall „Semen derived Enhancer of Virus Infection“ (SEVI) genannt, verstärken das Andocken von Viren an ihre Zielzellen und erhöhen möglicherweise die Effizienz der sexuellen Übertragung des AIDS-Erregers HIV. Dieser eigentlich schädliche Mechanismus wurde von den Forschern benutzt, um den retroviralen Gentransfer für die Grundlagenforschung und womöglich für zukünftige therapeutische Anwendungen zu verbessern. Dabei wird genetisches Material von einem unschädlich gemachten Retrovirus gezielt in Zellen eingebracht und in ihr Erbgut integriert (Transduktion). Im Zuge ihrer Forschung haben die Wissenschaftler jetzt ein Peptid identifiziert, das Nanofibrillen noch viel effizienter als SEVI ausbildet. Der Fachbeitrag „Peptide nanofibrils boost retroviral gene transfer and provide a rapid means for concentrating viruses“ ist in der aktuellen Ausgabe des renommierten Journals „Nature Nanotechnology“ veröffentlicht worden.
Das Potential der Nanofibrillen als „Werkzeug“ für einen verbesserten Gentransfer war den Wissenschaftlern bereits vor ihrer jüngsten Entdeckung bekannt. Allerdings hat der aus Sperma isolierte Faktor SEVI einige Nachteile für diese Anwendung, weil er zeit- und kostenintensiv in der Herstellung ist. Zudem variieren Gestalt und Wirksamkeit der ausgebildeten Fibrillen. Bei dem jetzt entwickelten „Enhancing Factor C“ (EF-C) gibt es diese Nachteile nicht. „Das Fragment eines natürlichen Proteins bildet in wässriger Lösung unmittelbar Nanofibrillen aus. Diese Stäbchen sind nahezu identisch geformt und können unproblematisch in großen Mengen hergestellt werden“, erklärt Professor Jan Münch, Wissenschaftler am Institut für Molekulare Virologie der Universität Ulm. Die Forscher haben EF-C analysiert und kommen zu dem Schluss: Das Peptid fördert den Gentransfer effizienter als SEVI und andere bekannte Transduktionsverstärker. Es scheint eine „Nanobrücke“ zwischen einzelnen Virusteilchen und Zellen auszubilden.
Anwendungsmöglichkeiten für EF-C ergeben sich in vielen Bereichen der Lebenswissenschaften. Bisher ist es nämlich schwierig, Gene mit hoher Effizienz in Zellen zu bringen: „Dazu werden oft ,virale Fähren‘ verwendet, die allerdings nur schlecht an Zielzellen binden. Durch die Zugabe von Nanofibrillen heften sich mehr Viren an die Zellen und die Gentransferraten steigen“, erklärt Jan Münch. Künftig könnte so auf einfache Art und Weise Genmaterial in Stammzellen geschleust werden - zum Beispiel zur Krebs-Therapie. „Auch Arzneistoffe werden eines Tages womöglich mithilfe von EF-C in Zellen eingebracht“, fügen Dr. Christoph Meier und Professorin Tanja Weil, Wissenschaftler am Institut für Organische Chemie III der Uni Ulm, hinzu. Und selbst in der HIV-Forschung könnte der einstige Zufallsbefund Anwendung finden – etwa um Infektionsraten in Proben durch die Nanofibrillen zu steigern.
Das Peptid EF-C ist bereits von mehreren Instituten auf seine Vermarktbarkeit geprüft worden. Die Herstellung übernimmt die Pharis Biotec GmbH unter der Leitung von Professor Wolf-Georg Forssmann. In Kürze kommt es als Produkt „Protransduzin“ für die Verstärkung des retroviralen Gentransfers auf den Markt.
Die interdisziplinäre Gruppe aus Molekularbiologen, Chemikern, Physikern und weiteren Forschern hat in ihrer Publikation grundlegende Wirkungsmechanismen von EF-C beschrieben. In Zukunft wollen die Wissenschaftler aus Ulm, Hannover, Moskau (Lomonosov-Universität), Barcelona, San Francisco und Cambridge zum Beispiel untersuchen, welche Peptid-Eigenschaften die Gestalt der Fibrillen bestimmen und wie die „Stäbchen“ für weitere Anwendungen optimiert werden können.
Weitere Informationen:
Prof. Dr. Jan Münch, Tel.: 0731 500-65154
jan.muench@uni-ulm.de
Dr. Christoph Meier, Tel.: 0731 50-22352
christoph.meier@uni-ulm.de
Maral Yolamanova, Christoph Meier, Alexey K. Shaytan, Virag Vas, Carlos W. Bertoncini, Franziska Arnold, Onofrio Zirafi, Shariq M. Usmani, Janis A.Müller, Daniel Sauter, Christine Goffinet, David Palesch, Paul Walther, Nadia R. Roan, Hartmut Geiger, Oleg Lunov, Thomas Simmet, Jens Bohne, Hubert Schrezenmeier, Klaus Schwarz, Ludger Ständker, Wolf-Georg Forssmann, Xavier Salvatella, Pavel G. Khalatur, Alexei R. Khokhlov, Tuomas P. J. Knowles, Tanja Weil, Frank Kirchhoff and Jan Münch: Peptide nanofibrils boost retroviral gene transfer and provide a rapid means for concentrating viruses. Nature Nanotechnology. DOI: 10.1038/NNANO.2012.248
Prof. Jan Münch forscht am Ulmer Institut für Molekulare Virologie
Foto: Uni Ulm
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Dr. Christoph Meier ist Ko-Erstautor der Publikation in Nature Nanotechnology
Foto: Uni Ulm
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Criteria of this press release:
Journalists
Biology, Chemistry, Medicine
transregional, national
Research results
German
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