Hier wird Chemie-Geschichte lebendig: Die Tagung „Zeitzeugen-Berichte XII“ des Industriekreises der Fachgruppe Geschichte der Chemie der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) findet vom 18. bis 20. September in Lutherstadt Wittenberg statt. Wie im Zeitraffer lassen 18 Redner hundert Jahre Geschichte der industriellen Chemie in Deutschland Revue passieren. Sie berichten aus persönlicher Sicht von historischen Ereignissen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen, deren Einfluss auf die Chemiegeschichte und deren Auswirkungen bis in die heutige Zeit. Tagungsort ist die Leucorea, der Wittenberger Standort der Universität Halle-Wittenberg.
Es ist ein weiter Bogen, der sich vom historischen Tagungsort, der Leucorea, bis zu den innovativen Agrochemikalien spannt, die heute bei der SKW Stickstoffwerke GmbH im Wittenberger Stadtteil Piesteritz hergestellt werden. Kriegsbedingt als „Reichsstickstoffwerke“ auf Calciumcarbid-/Kalkstickstoff-Basis im Jahre 1915 gegründet und einer wechselvollen Geschichte unterworfen, wurden dort bedeutende Beiträge zur Entwicklung der anorganischen Großchemie (Salpetersäure, Phosphor) geleistet. Piesteritz ist heute einer der größten deutschen Düngemittelhersteller. Kreativ war man in Piesteritz auch während der Zeit des Stickstoffwerkes als Volkseigener Betrieb, als man in den 1970er Jahren ein neuartiges Verfahren zur Aufarbeitung von Phosphorschlamm entwickelte, der bei der elektrothermischen Phosphorgewinnung anfiel. Ebenso zur Sprache kommt die einstmals große Bedeutung des Carbids als Grundstoff der Kohlechemie, die nach 1945 besonders in der DDR und auch am Standort Piesteritz intensiv weiterbetrieben wurde. Piesteritz spielte im Übrigen auch innerhalb eines Netzwerks von Forschungs- und Produktionsstätten Seltener Erden in der DDR eine Rolle als Produktionsstandort.
Wie das Stickstoffwerk Piesteritz wurde auch das Leunawerk kriegsbedingt gegründet, über dessen Geschichte von 1916 bis 1945 auf der Tagung informiert wird. Ausgehend von der Ammoniaksynthese nach dem Haber-Bosch-Verfahren, das schon seit 1913 im BASF-Werk Ludwigshafen-Oppau betrieben und im Leunawerk während des Ersten Weltkrieges in einer zweiten Großanlage verwirklicht wurde, entwickelten Chemiker und Ingenieure in der Zwischenkriegszeit in Leuna zahlreiche weitere, für die chemische Industrie weltweit wegweisende Hochdruckverfahren wie die Methanolsynthese sowie die katalytische Hydrierung von (Braun-)Kohle zur Gewinnung von Treibstoffen für Kraftfahrzeuge und Flugbenzin. Diese Technologien bildeten die Grundlage für die Entwicklung des Leunawerks zum größten Chemiestandort der DDR, worüber ein weiterer Vortrag aus Zeitzeugen-Sicht zu einem späteren Zeitpunkt geplant ist. Von der Bedeutung elektrochemischer Analysenverfahren in den Betrieben der DDR-Großchemie zeugt ein Bericht über die Polarographie mit der Quecksilbertropfelektrode, deren vielseitiger Einsatz im Leunawerk und im Hydrierwerk Zeitz belegt wird.
Deutschlands Chemieparks genießen einen ausgezeichneten Ruf aufgrund ihrer Zukunftsfähigkeit und der zahlreichen Standortvorteile. Der Erfolg der Chemieproduzenten wirkt sich auch positiv auf die umgebende Wirtschaft und Gesellschaft aus. So wird über den langen Weg der Umwandlung der ehemaligen, in der DDR bedeutenden Kombinatsbetriebe Bitterfeld und Wolfen nach der Wende 1989/90 zum heutigen einheitlichen und seit 2013 nachhaltig bewirtschafteten Chemiepark berichtet. Am Beispiel des Fotochemischen Kombinats Wolfen werden die Organisationsstrukturen der Qualitätssicherung in der DDR und insbesondere die staatliche Einflussnahme aufgezeigt.
Vor dem Hintergrund des Strukturwandels der Großchemie in Mitteldeutschland wird ausführlich über Entstehung, Aufgaben und Ziele der Mitteldeutschen Sanierungs- und Entsorgungsgesellschaft mbH (MDSE) berichtet, die am 1. August 1997 aus diversen, nach der Wende gebildeten Vorgängergesellschaften gegründet und am 1. Januar 2002 durch das Land Sachsen-Anhalt übernommen wurde. Sie bündelt seither die Sanierung sowie den umweltgerechten Betrieb von Deponien und ist verantwortlicher Projektträger für Altlastensanierung in den sogenannten Ökologischen Großprojekten Bitterfeld-Wolfen, Leuna, Zeitz und Buna-Schkopau.
Als Dokumentation zeitgenössischer Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit auch in der DDR wird der wenig bekannte DEFA-Film „Bankett für Achilles“ vorgestellt, der als Rahmenhandlung die Abschiedsfeier von Meister Achilles vor dem Eintritt in den Ruhestand schildert. Der Film wurde 1975 an Original-Schauplätzen gedreht und bietet vor dem düsteren zeitgenössischen Hintergrund des Chemischen Kombinats Bitterfeld eine unerwartet kritische „Innen“-Sicht der DDR.
Dass in der DDR erfolgreiche Innovationen möglich waren, zeigt das Beispiel des Wachstumsregulators „Camposan“, der in den 1970er Jahren durch die effiziente Kooperation der Akademie der Wissenschaften der DDR, des Chemischen Kombinats Bitterfeld und der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften der DDR äußerst zügig realisiert wurde. Mit Camposan wurden schließlich 80 Prozent der Roggen- und Gerstenfläche der DDR behandelt.
Auch wird an die Ansiedlung der Dow Chemical Company in der Bundesrepublik Deutschland erinnert, die 1972 in Stade ihren ersten deutschen Großstandort in Betrieb nahm. Zunehmend unter kritischer Observanz, die sich seinerzeit unter veränderten gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen sehr rasch einstellte, musste Dow den neuen Standort im Angesicht massenhafter Einsprüche weiterentwickeln. So wurde in Stade weltweit erstmalig das „Containment“-Sicherheitskonzept für Phosgen verarbeitende Anlagen realisiert.
Weitere Zeitzeugenberichte befassen sich mit dem Grundstoff Acetaldehyd am Chemiestandort Schkopau sowie in vergleichender Perspektive in Knapsack-Hürth, mit der Ablösung der analogen Fotografie durch digitale Techniken, mit den mehrfach gescheiterten Innovationsversuchen zur Einführung des Gießreifens, der den konventionellen, „gebauten“ Reifen ablösen sollte, und mit dem in Deutschland wegen seines carcinogenen Potenzials heute verbotenen Carbobitumen für Straßenbeläge.
Einblicke in die Akademia und deren Zusammenarbeit mit der Industrie gewähren Beiträge über das Deutsche Kunststoff-Institut in Darmstadt, das 2012 in die Fraunhofer-Gesellschaft integriert wurde und über die Entwicklung von Hochtemperaturwerkstoffen an der Akademie der Wissenschaften der DDR.
Die Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) gehört mit rund 31.000 Mitgliedern zu den größten chemiewissenschaftlichen Gesellschaften weltweit. Sie hat 27 Fachgruppen und Sektionen, darunter die Fachgruppe Geschichte der Chemie mit fast 380 Mitgliedern. Der Industriekreis der Fachgruppe hat zum Ziel, der Geschichte der chemischen Industrie und Technologie einen höheren Stellenwert zu verleihen.
Criteria of this press release:
Journalists, Scientists and scholars, Students
Chemistry, History / archaeology
transregional, national
Miscellaneous scientific news/publications, Scientific conferences
German
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