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08/25/1998 00:00

ICM'98: Die Mathematik erobert die Börsen

Ramona Ehret Stabsstelle Kommunikation, Events und Alumni
Technische Universität Berlin

    Banken nutzen neueste Methoden der Finanzmathematik, um das Risiko von Börsentransaktionen zu vermindern. Auch Versicherungen können davon profitieren und Millionen Mark an Kosten sparen.
    Vortrag von Professor Walter Schachermayer am 25. August 1998

    Daß Finanzjongleure mit Devisen und Aktien spekulieren und dabei riesige Gewinne erzielen können, hat sich längst herumgesprochen. Genauso bekannt ist freilich das Risiko von Börsenspekulationen, deren Folgen auch ehrliche Händler überraschend treffen kann. Dieses Risiko läßt sich indes vermindern - mit moderner Mathematik. Ausgeklügelte Finanzprodukte erlauben es beispielsweise Unternehmern, sich gegen Kursschwankungen von Währungen oder Aktien abzusichern. Auch Versicherungen können die sogenannten Derivate nutzen, um aufwendige Rückversicherungen leichter und billiger abzuwickeln.

    "Keine Bank, die auf dem wachsenden Markt der Derivate aktiv ist, kann mehr auf die neuen mathematischen Methoden verzichten, wenn sie konkurrenzfähig sein will", sagt Walter Schachermayer, Professor für Angewandte Mathematik und Statistik an der Universität Wien. "In den letzten Jahren gab es einen Boom in der Finanzmathematik. Absolventen dieses Gebiets haben keine Schwierigkeiten, interessante Jobs in Banken und Versicherungen zu finden." Auch akademisch wurde bereits Lorbeer verteilt. So ging der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften im vergangenen Jahr an Myron S. Scholes und Robert C. Merton, die zusammen mit ihrem 1995 verstorbenen Kollegen Fischer Black das mathematische Rüstzeug der neuen Finanztechnik entwikkelten. Prof. Schachermayer selbst erhielt im Juli dieses Jahres die höchste wissenschaftliche Auszeichnung Österreichs, den mit 15 Millionen Schilling (ca. 2,1 Millionen Mark) dotierten Wittgenstein-Preis. Der international renommierte Experte für Finanzmathematik ist aus Anlaß des Internationalen Mathematiker-Kongresses nach Berlin gekommen. Am morgigen Dienstag, (25. August 1998, 19.30 Uhr, Berliner Urania, Kleiststraße 13 - 14, Berlin-Schöneberg) hält er im Beiprogramm des Kongresses den Vortrag "The Role of Mathematics in Financial Markets", der sich an ein breiteres Publikum wendet. (Der Vortrag ist in englischer Sprache, wird aber übersetzt.)

    Das Prinzip der Derivate läßt sich mit einem konkreten Beispiel erklären. Ein Unternehmer aus Deutschland beispielsweise, der Küchenmaschinen in die USA exportiert, ist vom Dollarkurs abhängig. Sinkt der Dollar im Verhältnis zur Deutschen Mark, so muß der Unternehmer mit Gewinneinbußen rechnen. Deshalb möchte er sich gegen Kursschwankungen versichern. Seine Bank könnte ihm gegen eine Gebühr anbieten, auch noch in einem halben Jahr die Währungen zum aktuellen Dollarkurs zu tauschen. Ist der Wert des Dollers gleich geblieben oder gestiegen, so ist die Option auf den alten Währungstausch gegenstandslos, da der Unternehmer nun ohnehin gleich viel oder mehr Gewinn erwarten kann. Auch die Bank ist zufrieden; sie verbucht die berechnete Gebühr als Gewinn.

    "Ideal wäre es nun, zwei Personen zusammenzuführen, die gegenläufige Risiken besitzen", erklärt Schachermayer. "Zum Beispiel wird ein amerikanischer Exporteur die gleichen Sorgen um den Wechselkurs haben wie der deutsche Unternehmer. Die beiden könnten ihre Risiken an der Börse gegeneinander aushandeln." Sich auf dem Finanzmarkt gegen Risiken abzusichern, ist in den vergangenen Jahren immer beliebter geworden. Optionen, Futures und Swaps, wie die neuen Finanzprodukte heißen, werden nicht nur für Währungen benutzt, sondern auch bei Aktien und anderen Finanzprodukten.

    Selbst Naturkatastrophen wie Sturm- oder Flutschäden werden an der Börse gehandelt. Die "Katastrophen-Bonds" nutzen aus, daß diese Art von Versicherung hervorragend zum Spekulieren einlädt: Die einen wollen sich gegen eventuelle Schäden absichern, die anderen übernehmen gern ein Teil des Risikos, weil sie damit auf schnellen Gewinn hoffen, wenn die Katastrophe nicht eintritt. Eine Schweizer Versicherung vergibt beispielsweise seit zwei Jahren "Hagel-Bonds", die sich nur dann auszahlen, wenn in einer genau definierten Region der Schweiz in einem bestimmten Zeitraum kein Hagel fällt. In Kalifornien kann man in gleicher Weise auf Regen spekulieren. Hier gibt es Derivate, die nur dann gewinnbringend sind, wenn auf dem Flughafengelände vom Herbst bis zum Frühjahr zwischen 43 und 69 Zentimeter Regen fällt.

    "Die Grundidee jeder Versicherung ist es, Risiken auf viele Leute zu verteilen. Bei hohen Schadenssummen spannt ein Versicherungsunternehmen ein vielstufiges Netz von Rückversicherungen, um sich selbst abzusichern", erklärt Schachermayer den Erfolg dieser Finanzprodukte. "Das ist aber relativ teuer und schwerfällig gemessen an der Flexibilität der Finanzmärkte." Wem es also gelingt, Rückversicherungen auf den Finanzmarkt zu übertragen, der kann Millionen Mark an Verwalungskosten sparen.

    Die Mathematik kommt ins Spiel, um den angemessenen Preis der Derivate zu berechnen. Dazu benötigt man Informationen darüber, wie sich Währungen oder Aktien zukünftig in ihrem Wert verändern oder wie oft Katastrophen zu erwarten sind. Natürlich können auch Mathematiker die Zukunft nicht vorhersagen, aber sie können aus vorhandenen Daten eine Wahrscheinlichkeitsverteilung ermitteln. Aus ihnen kann man dann mit Hilfe komplizierter Formeln einen fairen Preis für die Derivate ermitteln. In den 70er Jahren haben Black, Scholes und Merton hier Grundlegendes geleistet, doch noch heute gibt es einen hohen Forschungsbedarf. "Die mathematischen Modelle, die man zur Zeit benutzt, können noch wesentlich verbessert werden ", sagt Walter Schachermayer, der sich mit mathematischen Beweisen zentraler Prinzipien aus der Finanzwelt ein internationales Renomée verschafft hat. Zahlreiche private und universitäre Arbeitsgruppen in aller Welt forschen in der Finanzmathematik. In Berlin sind dies vor allem die Gruppen um Prof. Hans Föllmer an der Humboldt-Universität und Prof. Martin Schweizer von der Technischen Universität Berlin.

    "Das faszinierende an diesem Zweig der Mathematik ist, daß sie sehr eng mit der Praxis verflochten ist", sagt Schachermayer. "In der Physik ist es egal, welches Modell man hat, um die Bewegung der Planeten zu beschreiben, sie bewegen sich immer gleich. Werden aber unsere Modelle in der Praxis angewandt, so beeinflussen sie sofort die Finanzwelt." Theorie und Praxis stehen in einem ständigen Austausch. So pflegt auch Schachermayer, der nach seinem Studium zunächst zwei Jahre bei einer Versicherung arbeitete, weiter den Kontakt zu Mathematikern, die bei Banken und Versicherungen in Wien, Frankfurt oder London arbeiten.
    Vasco Alexander Schmidt

    Walter Schachermayer (geb. 24.7.1950) studierte in Wien Betriebswirtschaftslehre und Mathematik. 1980 habilitierte er sich an der Universität Linz, arbeitete danach aber zunächst zwei Jahre bei einer Versicherung, bevor er seine akademische Laufbahn weiterverfolgte. Seit 1993 ist er Professor für angewandte Mathematik und Statistik an der Universität Wien. Im September wird er an die Technische Universität Wien wechseln, um dort den Lehrstuhl für Finanz- und Versicherungsmathematik zu übernehmen.

    Weitere Informationen zum Mathematik-Weltkongreß erteilt Ihnen gerne: Janny Glaesmer, Presse- und Informationsreferat, TU Berlin, Tel: 030/314-22919 oder -23922, Fax: 030/314-23909, E-Mail: pressestelle@tu-berlin.de.

    Diesen Beitrag können Sie im Rahmen Ihrer Berichterstattung ganz oder teilweise - auch ohne Namensnennung - verwenden. Wir möchten Sie aber bitten, uns ein Belegexemplar zuzusenden.


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    Criteria of this press release:
    Economics / business administration, Information technology, Mathematics, Media and communication sciences, Physics / astronomy, interdisciplinary
    transregional, national
    Miscellaneous scientific news/publications, Research projects, Science policy, Scientific conferences
    German


     

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