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06/26/2015 10:13

„Der Mensch braucht Monster“

Johannes Seiler Dezernat 8 - Hochschulkommunikation
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

    Den Hundsköpfigen, Zyklopen, Einfüßigen und Alf, dem Außerirdischen vom Planeten Melmac, ist eines gemeinsam: Sie sind allesamt Monster. Sogar die schönen Amazonen gehören dazu. Der Mediävistik-Professor Dr. Rudolf Simek von der Universität Bonn hat ein Buch über „Monster im Mittelalter“ geschrieben. Er geht dabei auch auf Spurensuche in der Antike und der Neuzeit, in Kirchen und alten Schriften und beschreibt darüber hinaus 250 Fabelwesen in einem Lexikon. Prof. Simek kommt zu der Erkenntnis: So furchterregend Monster im Mittelalter gewirkt haben mögen, wirklich Angst hatten die Menschen nicht vor ihnen.

    Die auch als Wundervölker oder Fabelrassen bezeichneten Monster haben für die Menschen eine lange Tradition und waren gerade im Mittelalter allgegenwärtig. Man unterteilte sie in menschenartige Wesen mit bizarr entstellten Gliedern, Mischungen aus Tier und Mensch und fantasievolle Meereslebewesen; Fabelwesen zu Lande wie Drachen, Einhörner oder Trolle gehören nicht dazu. Die Darstellung von Monstern mutete oft archaisch und angsteinflößend an. In einer illustrierten Tierdichtung aus dem 13. Jahrhundert zeigen Bilder in Simeks Buch menschlich anmutende Wesen mit einem Kopf, der direkt vor der Brust hängt, oder einem Mund, gebogen wie eine Banane. Die Amazonen gehören in diesen Kanon, weil ihr Sozialverhalten – sie lebten in einem Staat ohne Männer – durchaus befremdlich wirkte.

    Besonders fasziniert haben Prof. Simek die Einfüßigen, Skiopodes genannt. Diese vor allem in Afrika bekannten Gestalten waren lediglich mit einem Bein und einem Fuß ausgestattet. Zugleich werden sie als Volk von „wunderbarer Geschwindigkeit“ beschrieben. Es existieren Zeichnungen, auf denen sie, grotesk auf dem Rücken liegend, ihr Bein verwenden, um sich vor dem Sonnenlicht zu schützen. Sie zählen zu den wenigen Wundervölkern, die in geistlichen Schriften positiv genannt und beschrieben werden als „Leute, welche nur das eine Bein der Vollkommenheit gegen Gott und ihren Nächsten haben, das heißt das Bein der Liebe“.

    Diese Geschöpfe habe es nicht wirklich gegeben. Vor allem seien sie schon in der Antike in den Köpfen der Menschen durch Reisende entstanden, die den Daheimgebliebenen von ihren Erlebnissen erzählten oder sie niederschrieben wie Homer. Das Wort Monster leitet sich aus dem Lateinischen für monstrare (deutsch: zeigen) ab. Die mittelalterliche Bedeutung von monstrosus lässt sich am ehesten mit wunderlich übersetzen. Viele Menschen glaubten damals, die Monster erfüllten eine wichtige Funktion im göttlichen Heilsplan. Verbreitet war die Ansicht, sie sollten den Menschen Warnung vor den Konsequenzen der eigenen Sünden sein. Der Heilige Augustinus von Hippo vermutete rund 400 n. Chr. als einer der Ersten hinter den Wundervölkern Monstrositäten, die sich parallel zu Missgeburten entwickelten.

    Augustinus äußerte auch, dass sie trotz ihrer entstellten Körper zu Gottes Schöpfung gehörten und insofern inmitten der Gesellschaft ihren Platz hätten. Eine Karte, die der Mediävist in seinem reich bebilderten Buch veröffentlicht, zeigt die Wunderlichen allerdings am Rande der Erde, während der Mensch im Zentrum erscheint. Anhaltspunkte dafür, dass die Menschen im Mittelalter Angst vor Monstern empfanden, konnte Prof. Rudolf Simek kaum finden: „Der Mensch braucht Monster aber bis heute, um sich selbst als normal zu definieren.“

    „Niemand dachte im Mittelalter, die Erde sei eine Scheibe“

    Die oft verbreitete These, dass die Wissenschaftler und Gebildeten im Mittelalter glaubten, der Planet Erde sei eine Scheibe, verbannt der Wissenschaftler der Universität Bonn ins Reich der Legenden: „Das dachte damals keiner. Die zweidimensionale Darstellung war eben die einfachste, so wie wir sie heute ja auch noch in Atlanten bevorzugen.“

    Es wurde allerdings durchaus die Ansicht vertreten, dass die Monster neben den damals drei bekannten Kontinenten möglicherweise auf einem vierten Kontinent existieren könnten. Sie lebten in jedem Fall weit weg und waren den Menschen fremd in Sprache, Sozialverhalten und Bräuchen, so Prof. Simek von der Universität Bonn. Die Neugier auf sie, ihre physischen Absonderlichkeiten und seltsamen Verhaltensweisen bleibt jedenfalls bis heute erhalten. Sie findet sich in Kinderbüchern und unzähligen Filmen wieder.

    Auf ALF, die Fabelgestalt aus der gleichnamigen US-amerikanischen Fernsehserie, und E.T., den bekannten Außerirdischen aus dem gleichnamigen Steven-Spielberg-Film, geht der Wissenschaftler der Universität Bonn ebenfalls ein: auf ihre eigentümliche Gestalt, Alfs Fell, seinen untersetzten Körperbau. Die Vorstellung von Monstern in der Neuzeit hat sich verändert. In Kinderbüchern der vergangenen 50 Jahre, schreibt Prof. Dr. Rudolf Simek, würden sie vorwiegend als groß und bedrohlich beschrieben und gezeichnet. Meistens erführen Sie eine Wandlung, am Ende derer sie vermutlich aus pädagogischen Gründen vermenschlicht und verharmlost würden.

    Publikation: „Monster im Mittelalter – Die phantastische Welt der Wundervölker und Fabelwesen”, Prof. Dr. Rudolf Simek, Böhlau-Verlag, Wien/Köln/Weimar, broschiert, 29,90 Euro, 346 Seiten.

    Kontakt:

    Prof. Dr. Rudolf Simek
    Institut für Germanistik
    Abteilung für skandinavische Sprachen und Literaturen
    Universität Bonn
    E-Mail: simek@uni-bonn.de
    Prof. Simek ist derzeit aufgrund eines Forschungssemesters nur per E-Mail zu erreichen.


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    Prof. Dr. Rudolf Simek vom Institut für Germanistik (Abteilung für skandinavische Sprachen und Literaturen) der Universität Bonn.
    Prof. Dr. Rudolf Simek vom Institut für Germanistik (Abteilung für skandinavische Sprachen und Liter ...
    © Foto: privat
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    Criteria of this press release:
    Journalists, all interested persons
    Cultural sciences, Language / literature
    transregional, national
    Research results, Scientific Publications
    German


     

    Prof. Dr. Rudolf Simek vom Institut für Germanistik (Abteilung für skandinavische Sprachen und Literaturen) der Universität Bonn.


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