Neues Unter-Eis-Netz kommt bei großräumiger Studie zur Verbreitung des Polardorsches zum Einsatz
Mit einem neuen Fanggerät ist es Meeresbiologen des Alfred-Wegener-Institutes erstmals gelungen, Polardorsche direkt unter dem arktischen Meereis zu fischen und im Anschluss ihre Verbreitung und Herkunft zu ermitteln. Diese Daten sind von fundamentaler Bedeutung, weil der Polardorsch als Nahrung für Robben, Wale und Seevögel eine zentrale Rolle im Nahrungsnetz der Arktis spielt. Die Studie, welche kürzlich im Fachmagazin Polar Biology erschienen ist, zeigt, dass sich unter dem Eis ausschließlich Jungtiere aufhalten. Die Forscher fürchten, dass dieser wichtige Lebensraum im Zuge des Klimawandels verloren gehen könnte.
Belugas, Narwale, Ringelrobben und zahlreiche Seevogel-Arten der Arktis haben eines gemein: Sie ernähren sich am liebsten vom Polardorsch Boreogadus saida. Der Fisch zählt damit zu den ökologisch bedeutendsten Tierarten des Arktischen Ozeans. Trotz dieser Schlüsselrolle ist das Wissen über ihn noch immer lückenhaft. Biologen wissen zwar seit Jahren, dass sich unter dem arktischen Meereis junge Polardorsche aufhalten. Wie viele dort leben oder woher sie kommen, aber war bislang völlig unklar. Wichtige neue Ergebnisse liefert jetzt eine Publikation im Fachmagazin Polar Biology, an der neben Wissenschaftlern des Alfred-Wegener-Institutes, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) auch Wissenschaftler der Universität Hamburg und des niederländischen Forschungsinstitutes IMARES beteiligt waren.
„Es ist uns erstmals gelungen, mit einem Spezialnetz direkt unter dem Eis Polardorsche in größerer Zahl zu fischen und so die großräumige Verbreitung der Fische abzuschätzen. Rechnet man die Ergebnisse hoch, könnten unter dem Meereisdeckel der östlichen Arktis mehr als neun Milliarden Polardorsche leben. Darüber hinaus konnten wir fundamentale biologische und physikalische Daten erfassen“, sagt AWI-Biologin und Erstautorin Carmen David.
Die Daten wurden im Sommer 2012 während einer mehrwöchigen Arktis-Expedition mit dem Forschungseisbrecher Polarstern gewonnen. An 13 Stationen zwischen Grönland, Spitzbergen und Russland zogen die Wissenschaftler ein speziell entwickeltes Unter-Eis-Netz kilometerweit neben dem Schiff her. Das von dem niederländischen Kooperationspartner IMARES entwickelte Netz ist etwa PKW-groß und so konstruiert, dass sein großer Rahmen bei jedem Fischzug unter das Meereis taucht. Schwimmkörper drücken es dann Richtung Wasseroberfläche und somit direkt unter die Schollen. Darüber hinaus ist dieses SUIT (Surface and Under Ice Trawl) genannte Schleppnetz mit einer Kamera und verschiedenen Messgeräten ausgestattet, die unter anderem Eisdicke, Temperatur und Salzgehalt messen.
Auf diese Weise gelangen den Wissenschaftlern Fänge, die vollkommen neue Einblicke in den Lebenskreislauf des Polardorsches erlauben. „Bis zu unserer Expedition hatte es nur punktuelle Fänge oder Beobachtungen einzelner Polardorsche gegeben, die Taucher unter dem Eis gemacht hatten“, sagt Carmen David. „Jetzt wissen wir: Direkt unter dem Eis leben vor allem ein bis zwei Jahre alte Jungfische, die sich unter anderem von Flohkrebsen ernähren. Da sich einige der Polardorsche unter Überhängen und in Spalten unter dem Eis aufhalten, haben wir mit dem Netz wahrscheinlich nicht alle Polardorsche fangen können – das heißt, dass die Polardorsch-Population unter dem Eis vielleicht sogar noch größer ist, als unsere Zahlen nahelegen.“
Um herauszufinden, woher die jungen Polardorsche stammen, haben die Wissenschaftler Satellitendaten und Computermodelle genutzt, mit denen die langsame Bewegung des treibenden Meereises zurückverfolgt werden kann. Denn schon seit längerer Zeit wird vermutet, dass die jungen Fische mit dem treibenden Eis aus ihren Laichgebieten in die zentrale Arktis gelangen. Diese Laichgebiete befinden sich in den Küstengewässern der nördlich Sibiriens gelegenen Karasee und Laptewsee. Im Herbst bildet sich dort neues Meereis, das der Wind dann langsam Richtung Norden auf das offene Meer hinausschiebt. Die Jungfische, so die Annahme, wandern unter dem Eis mit.
„Wir haben die Satellitendaten ausgewertet, um festzustellen, wie schnell und wie weit das Eis in dem betreffenden Gebiet gewandert ist“, sagt AWI-Biologe und Ko-Autor Hauke Flores. „Von der Küste bis zu unseren Messstationen im Meer war das Eis zwischen 240 und 340 Tagen unterwegs. Diese Werte decken sich sehr gut mit dem Alter beziehungsweise der Körpergröße der jungen Polardorsche, die wir gefangen haben.“ Die Ergebnisse zeigen im Detail, dass die westlich gefangenen Fische aus der Karasee, die Tiere von den östlichen Stationen aus der weiter entfernten Laptewsee stammen könnten.
Um herauszufinden, wie gut die Fische unter dem Eis ernährt sind, analysierten die Wissenschaftler das Gewebe der Tiere im Labor. Alle Fische waren in Topform: ein Hinweis darauf, dass es unter dem Eis offensichtlich ausreichend viele Flohkrebse gibt und das Meereis somit eine regelrechte Kinderstube der Polardorsche darstellt.
Die neuen Erkenntnisse über die Jungtiere unter dem Eis sind vor allem deshalb wichtig, weil ungewiss ist, wie sich die Bestände des Polardorsches im Zuge des Klimawandels verändern werden. Die größte und wichtigste Polardorsch-Population lebt in der Barentssee, einem Meeresgebiet nördlich Norwegens. Da sich die Barentssee im Zuge des Klimawandels erwärmt, drängen seit einigen Jahren von Süden her die Lodde und der Kabeljau als konkurrierende Fischarten nach Norden. Aus diesem Grund wird befürchtet, dass die Polardorsch-Population schrumpfen könnte. Tatsächlich meldeten norwegische Forscher erst vor Kurzem, dass in einem regelmäßig untersuchten Fjord der Insel Spitzbergen in diesem Jahr zum ersten Mal überhaupt kein Polardorsch mehr zu finden war – sehr wohl aber Kabeljau.
Sollte die Polardorsch-Population in der Barentssee tatsächlich schrumpfen, könnten die Jungtiere unter dem Eis der östlichen Arktis umso wichtiger werden – vor allem, um die Verluste auszugleichen. „Wir wollen herausfinden, ob der Nachwuchs unter dem Eis eine Art Polardorsch-Reserve ist, der durch den genetischen Austausch mit Beständen in Sibirien und anderswo die Überlebensfähigkeit der küstennahen Populationen erhöht“, sagt Hauke Flores.
Immerhin sind die geschätzten neun Milliarden Jungfische unter dem Eis ein Bestand, der nicht zu vernachlässigen ist. Zum Vergleich: In der Barentssee, jenem Gebiet mit der größten Polardorsch-Population, leben gerademal doppelt so viele ein- bis zweijährigen Fische dieser Art. Carmen David und Hauke Flores wollen nun mit weiteren Expeditionen mehr über das künftige Schicksal des Polardorsches herausfinden.
Hinweise für Redaktionen:
Die Studie ist unter folgendem Titel im Fachmagazin Polar Biology erschienen:
Carmen David, Benjamin Lange, Thomas Krumpen, Fokje Schaafsma, Jan Andries van Franeker, Hauke Flores, 2015. Under-ice distribution of polar cod Boreogadus saida in the central Arctic Ocean and their association with sea-ice habitat properties. Polar Biology. DOI 10.1007/s00300-015-1774-0
Druckbare Fotos finden Sie in der Online-Version dieser Pressemitteilung unter: http://www.awi.de/ueber-uns/service/presse.html
Ihre wissenschaftlichen Ansprechpartner am Alfred-Wegener-Institut sind:
• Carmen David (Tel: +49(471)4831-1085; E-Mail: Carmen.David@awi.de)
• Dr. Hauke Flores (Tel: +49(471)4831-1444; E-Mail: Hauke.Flores@awi.de)
Ihre Ansprechpartnerin in der Abteilung Kommunikation und Medien ist Sina Löschke (Tel: 0471 4831-2008; E-Mail: medien@awi.de).
Polardorsch
Foto: H. Flores / Alfred-Wegener-Institut
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Criteria of this press release:
Journalists
Biology, Oceanology / climate
transregional, national
Research results, Scientific Publications
German
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