Düsseldorf – Dass Patienten diese Initiative gegen Über-, Unter- und Fehlversorgung in der Medizin maßgeblich mitgestalten müssen, war Konsens des Berliner Forums der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V.) im Oktober. „Gemeinsam Klug Entscheiden“ stellt Patienten in den Mittelpunkt. Die Initiative der AWMF mit ihren Fachgesellschaften zielt auf eine gemeinsame, partizipative Entscheidungsfindung, die sich stets an der individuellen Situation des jeweiligen Patienten ausrichtet.
Dazu sind gut verständliche, klar formulierte Empfehlungen auf Basis bestehender Leitlinien oder anderer hochwertiger Wissensquellen notwendig, die auch der Information von Patienten dienen. In unserem zunehmend marktwirtschaftlich geprägten Gesundheitssystem müsse umso mehr gelten, dass Entscheidungen für oder gegen eine Behandlung wissenschaftlich und ethisch zu begründen sind.
Die Fachgesellschaften entwickeln seit 20 Jahren hochwertige Leitlinien zur Verbesserung der medizinischen Versorgung, unterstützt und koordiniert von der AWMF. Das Register der AWMF umfasst derzeit etwa 750 Leitlinien. Forschungsergebnisse zur Umsetzung dieser Leitlinien sind jedoch zum Teil ernüchternd und für manche wichtige Gesundheitsfragen gibt es (noch) keine Leitlinien. „Mit ‚Gemeinsam klug entscheiden‘ wollen wir bestehende Lücken schließen und noch ungelöste Probleme beheben“, sagt Professor Dr. med. Rolf Kreienberg, Präsident der AWMF aus Landshut. Ein Beispiel aus der Praxis ist die Leitlinie Kreuzschmerz, die von 26 Fachgesellschaften und Organisationen einschließlich Patientenvertretern entwickelt und gemeinsam von der AWMF, der Bundesärztekammer (BÄK) und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) bereits 2010 herausgegeben wurde. Die Nationale VersorgungsLeitlinie (NVL) empfiehlt eine ganzheitliche, konservative Behandlung bei akuten, unspezifischen Rückenschmerzen. Doch die Zahl der Eingriffe am Rücken steigt noch immer an. Die Initiative „Gemeinsam Klug Entscheiden“ setzt hier an und fokussiert mit kurz gefassten Empfehlungen auf ausgewählte, prioritäre und besonders schwierige medizinische Entscheidungen. „Ziel der Initiative ist die Optimierung der Versorgungsqualität durch evidenzbasierte, interdisziplinäre Empfehlungen zu klar definierten Punkten“, erläutert Kreienberg.
Deshalb sind die 171 medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften unter dem Dach der AWMF aufgerufen, medizinische Leistungen zu benennen, die bei bestimmten Patientengruppen unnötig sind, aber sehr häufig eingesetzt werden oder sogar schädlich sind oder aber nützlich sind, aber zu selten eingesetzt werden. „Damit sollen sowohl Überversorgung als auch Unterversorgung klar benannt und die öffentliche Diskussion angeregt werden“, sagt Professor Dr. med. Ina Kopp, Leiterin des AWMF-Instituts für Medizinisches Wissensmanagement in Marburg. Zahlreiche Fachgesellschaften sind hier bereits sehr aktiv.
Dass es bei „Gemeinsam Klug Entscheiden“ um eine individuelle Arzt-Patienten-Kommunikation auf Augenhöhe und die Förderung der objektiven Information von Ärzten und Patienten geht, begrüßt Ursula Helms ausdrücklich. Sie ist Geschäftsführerin der Nationalen Kontakt- und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS) in Berlin: „Patientenorientierung sollte im gesamten Versorgungssystem ein viel stärkeres Qualitätsziel werden.“ Diese werde angesichts der demografischen Entwicklung immer wichtiger. Der Arzt müsse sich schließlich auch mit dem schwerhörigen oder dementen Patienten in seiner individuellen Situation verständigen. Auch gut informierte Patienten bemängelten heute, dass sie die Fachsprache der Ärzte oft nicht verstehen und diese sich zu wenig Zeit für ein Gespräch nehmen. Helms sieht die Aufgabe, Patienten umfassend zu informieren, jedoch nicht allein bei den Ärzten. Sie nimmt die Patienten selbst in die Pflicht: Sie sollten sich zum Teil selbstbewusster und verantwortlicher mit der eigenen Krankheit auseinandersetzen. Doch auch Krankenkassen und Selbsthilfeorganisationen sollten dieses Mehr an Kommunikation mittragen. Dafür müsse das System Zeit und Geld einplanen.
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