Noch bevor es die ersten Menschen gab, nisteten sich Retroviren im Genom unserer Vorfahren ein. Reste dieser Viren finden wir bis heute zu Tausenden in unserer DNA. Wie die Arbeitsgruppe um Professor Matthias Dobbelstein herausfand, sind diese viralen DNA-Abschnitte weit mehr als nur wirkungslose Überbleibsel aus früheren Zeiten. Sichtbar wird dies vor allem, wenn man Tumorzellen mit Wirkstoffen behandelt, die als HDAC-Inhibitoren bezeichnet werden. Durch diese Stoffe werden Gene aktiviert, die sich in der Nachbarschaft der viralen DNA befinden. Einige der so aktivierten Gene tragen zum Zelltod bei. So können antike Viren zur Wirksamkeit innovativer Krebsmedikamente beitragen.
Die Auseinandersetzung mit infektiösen Erregern ist fast so alt wie das Leben selbst. Auch in den jüngsten Zeiten der Evolution, also bei der Entstehung des Menschen, waren unsere Vorfahren dem Angriff von Viren ausgesetzt. Manche dieser Viren setzen ihre eigene Erbinformation in die des Wirts ein. Wenn nun eine Ei- oder Samenzelle solche Viren-DNA in sich trägt, dann wird diese DNA zum Bestandteil aller Nachkommen. Wir alle tragen deshalb die Erbinformation sogenannter endogener Retroviren in unseren Zellen.
Diese virale DNA wird gern als nutzloser Ballast („junk-DNA“) angesehen. Die Arbeitsgruppe um Matthias Dobbelstein konnte mit Unterstützung der Wilhelm Sander-Stiftung jedoch zeigen, dass die DNA endogener Retroviren weit mehr ist. Oft fügten die Viren ihre Erbinformation nämlich so in die des Wirts ein, dass sie neben funktionalen Genen zu liegen kam. So kann die Übersetzung der Gene in RNA und in Eiweißmoleküle durch die Virus-Abschnitte gesteuert werden. Im Rahmen des Projektes wurde klar, dass dies für Hunderte von Genen unseres Körpers gilt.
Die Aktivität der viralen Genabschnitte, bezeichnet als LTR12, wird besonders hoch, wenn man die Zellen mit einem bestimmten Krebs-Medikament behandelt, nämlich mit einem Inhibitor der Histone-Deazetylasen (HDACs). HDAC-Inhibitoren führen zu einer Aktivierung solcher Gene, die in der Nähe eines LTR12 liegen. Die Göttinger Forscher klärten auch die Frage, welche der verschiedenen HDACs hierfür gehemmt werden müssen. Selektive Hemmstoffe von HDACs der Klasse I reichen hierfür aus.
Was aber bedeutet dies für die Behandlung von Krebs? „Uns interessierte besonders die Frage: Könnte diese LTR12-vermittelte Genaktivierung nach Behandlung mit HDAC-Inhibitoren auch zum Tod von Tumorzellen beitragen?“, erklärt Dobbelstein. Bei diesen Untersuchungen stellte sich heraus, dass auch ein alter Bekannter unter den LTR12-induzierten Genen war: Ein sogenannter Todesrezeptor mit der offiziellen Bezeichnung „TNFRSF10B“, besser bekannt als „Killer-DR5“, wird über LTR12 induziert. Wenn die Tumorzelle aber mehr von diesem Rezeptor herstellt, dann kann sie leicht in den Selbstmord – die sogenannte Apoptose – getrieben werden. Tatsächlich scheint dieses Gen wesentlich zur Wirkung von HDAC-Inhibitoren gegen Tumorzellen beizutragen.
Bisher hat sich die Arbeitsgruppe vor allem mit Hodenkrebs-Zellen befasst, weil sich gerade dort die Aktivität von LTR12 gut beobachten lässt. „Es könnte aber durchaus auch in anderen Tumorarten funktionieren“, meinen die Erstautorinnen der gerade veröffentlichten Arbeit, Frau Dr. Ulrike Beyer und Frau Dr. Sonja Krönung. Erste Ergebnisse weisen in diese Richtung.
Bis zu einer Anwendung an Patienten ist es allerdings noch ein weiter Weg, da v. a. die klinische Wirksamkeit verschiedener HDAC-Inhibitoren noch genau festgestellt werden muss. Zahlreiche klinische Studien mit solchen Inhibitoren sind weltweit im Gange. Sollten sie Erfolg haben, dann könnten uralte Virusabschnitte neuen Medikamenten zur Wirkung verhelfen.
Publikation
Die Ergebnisse wurden wie folgt publiziert:
Beyer U, Krönung SK, Leha A, Walter L, Dobbelstein M (2015)
Comprehensive identification of genes driven by ERV9-LTRs reveals TNFRSF10B as a re-activatable mediator of testicular cancer cell death.
Cell Death & Differentiation. 2015 May 29. doi: 10.1038/cdd.2015.68.
Kontakt:
Arbeitsgruppe Professor Dr. med. Dobbelstein, Universität Göttingen
E-Mail: mdobbel@uni-goettingen.de
Die Wilhelm Sander-Stiftung hat dieses Forschungsprojekt mit rund 158.000 Euro unterstützt. Stiftungszweck ist die Förderung der medizinischen Forschung, insbesondere von Projekten im Rahmen der Krebsbekämpfung. Seit Gründung der Stiftung wurden insgesamt über 220 Millionen Euro für die Forschungsförderung in Deutschland und der Schweiz bewilligt. Die Stiftung geht aus dem Nachlass des gleichnamigen Unternehmers hervor, der 1973 verstorben ist.
Weitere Informationen zur Stiftung: http://www.wilhelm sander-stiftung.de
Criteria of this press release:
Journalists
Medicine
transregional, national
Research projects, Research results
German
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