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07/07/2003 11:55

Uni Marburg erhält Forschungszentrum für Kriegsverbrecherprozesse

Klaus Walter Stabsstelle Hochschulkommunikation
Philipps-Universität Marburg

    An der Philipps-Universität Marburg wird ein Forschungs- und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse eingerichtet. Ziel ist es, möglichst alle Kriegsverbrecherprozesse, die im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg gegen Deutsche und Japaner geführt wurden, ausführlich dokumentarisch zu erschließen. Durch die zentrale Erfassung und Aufarbeitung sollen erstmals systematische Recherchen zum bisherigen Bestand der Rechtsprechung in Völkerrechtsstrafsachen ermöglicht werden.

    Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs standen zwei Nationen im Fokus der Bewältigung der im Zusammenhang mit dem Krieg begangenen Verbrechen mit juristischen Mitteln: Deutschland und Japan. Für die unzähligen Taten bis dahin unvorstellbaren Ausmaßes wurden in vielen Tausend Prozessen rund um den Globus Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen - von Australien, dem asiatischen Raum, über West- und Osteuropa, Italien, Großbritannien bis nach USA und Kanada sowie in Japan und in Deutschland selbst. Hier sind die Nürnberger Prozesse Synonym für die alliierten Programme zur strafrechtlichen Verfolgung von Kriegsverbrechen. Mit dem Abschluss der Verfahren und der Teilung der Welt in zwei Blöcke ging das Interesse und die Möglichkeit einer völkerstrafrechtlichen Ahndung von Kriegsverbrechen weitgehend verloren.

    Diese Situation hat sich im Zuge der gewandelten allgemeinen weltpolitischen Verhältnisse in den letzten Jahren dramatisch verändert. Die Entwicklung des Völkerstrafrechts verläuft dynamisch wie nie zuvor, wie sich an der Einsetzung verschiedener internationaler Kriegsverbrecher-Tribunale (etwa für Ex-Jugoslawien und Ruanda) durch Beschlüsse des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen sowie vor allem an der Einrichtung des (ständigen) International Criminal Court (ICC, Den Haag) ablesen lässt. Die früheren Kriegsverbrecherprozesse gegen Deutsche und Japaner dienen in erster Linie als Quelle für Argumente und als Ressource von Präjudizien. Der internationale Strafgerichtshof für Jugoslawien, der internationale Strafgerichtshof für Ruanda und das UN-Tribunal für Ost-Timor haben sich bereits auf Präjudizien aus den Urteilen von Kriegsverbrecherprozessen des Zweiten Weltkriegs berufen, so dass aktueller Handlungsbedarf besteht.

    Um diesem nachzukommen, ergriffen Professor Dieter Simon (Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, Frankfurt/M.) und Professor David Cohen (University of California, Berkeley) 1998 die Initiative und führten ein Pilotprojekt durch, dessen Zielsetzung darin bestand zu prüfen, ob es möglich ist, eine umfassende Sammlung von Kriegsverbrecherprozessen zusammenzutragen. Das ehrgeizige Projekt war von überaus großem Erfolg gekrönt. Nunmehr soll das begonnene Werk in Kooperation verschiedener Wissenschaftler und Wissenschaftseinrichtungen weitergeführt, ausgebaut und mit der Errichtung des Forschungs- und Dokumentationszentrums Kriegsverbrecherprozesse an der Philipps-Universität Marburg auf dauerhafte institutionelle Grundlage gestellt werden.

    In Umsetzung dieser Ziele wurde heute eine Kooperationsvereinbarung zwischen dem Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte, vertreten durch dessen Direktorin, Frau Professor Marie Theres Fögen, und der Philipps-Universität Marburg durch den Präsidenten, Professor Horst F. Kern, abgeschlossen. Bei der Unterzeichung waren auch Professor Cohen (Berkeley) als zentraler Kooperationspartner und der bisherige Direktor des MPI für Europäische Rechtsgeschichte, Professor Simon, anwesend. Mit dem Abschluss der Vereinbarung werden die bisher in Frankfurt aufbewahrten, bereits vorhandenen Datenbestände aus dem Pilotprojekt an die Marburger Universität überführt werden. Dabei handelt es sich um Kopien aus niederländischen, ukrainischen, bulgarischen, französischen, italienischen und russischen Archiven sowie Forschungsberichte aus vielen Erdteilen - vor allem rd. 300 Mikrofilme zu britischen, italienischen und italienischen Kriegsverbrecherprozessen.

    Vorrangiges Ziel der zukünftigen Arbeit in Marburg ist es, möglichst alle Kriegsverbrecherprozesse gegen Deutsche und Japaner ausführlich dokumentarisch zu erschließen, indem die überlieferten Quellen reproduziert und der wissenschaftlichen Bearbeitung zentral zugänglich gemacht werden. Nach Schätzungen der Marburger Projektverantwortlichen liegen zurzeit nur wenige Prozent aller Kriegsverbrecherprozesse in Folge des Zweiten Weltkriegs publiziert vor. Mit ihrer umfassenden Verfügbarkeit an einem Ort werden Wissenschaftler aber auch Anwälte und Richter der neuen internationalen Strafgerichtshöfe wie auch der Internationale Gerichtshof in Den Haag erstmals in die Lage versetzt, systematische Recherchen zum bisherigen Bestand der Rechtsprechung in Völkerrechtsstrafsachen vorzunehmen. Die Umsetzung dieser Ziele und Aufgaben erfolgt institutionell innerhalb des neu errichteten Forschungs- und Dokumentationszentrums Kriegsverbrecherprozesse an der Philipps-Universität Marburg. Dem interdisziplinären Forscherteam gehören hier federführend der Strafrechtler Professor Henning Radtke, der Kriminologe Professor Dieter Rössner sowie die Politikwissenschaftler Professor Theo Schiller und Wolfgang Form an.

    Die Arbeit des Marburger Zentrums ist von einer weltweiten Bereitschaft zur Mitwirkung und in vielen Fällen auch von einem expliziten Interesse an einem Kooperations- und Austauschverbund getragen. Das Marburger Zentrum wird als internationale Forschungsstätte eng mit dem Berkeley War Crimes Studies Center (University of California, Berkeley) sowie der Wang School of Law (Shanghai) und einer ganzen Reihe weiterer Institutionen in Europa, Amerika, Australien und Asien kooperieren. Die beiden Zentren in Berkeley und Marburg werden über die gleichen Informationsgrundlagen verfügen (Aktenaustausch). Damit können Forscher und Forscherinnen an beiden Standorten das gesamte Material bearbeiten. Das Marburger Forschungs- und Dokumentationszentrums wird auch weiterhin auf die Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte bauen können. Kooperationen mit den Max-Plack-Instituten für Völkerrecht in Heidelberg und internationales Strafrecht in Freiburg/Br. sind, neben europaweiten und transatlantischen Forschungsnetzwerken, vorgesehen. Darin eingeschlossen sind auch die Initiierung von Studien- und Doktorantenprogrammen, von internationalen Konferenzen und Symposien sowie die Einrichtung von Gastprofessuren. Zugleich kann in der Lehre ein neuer Schwerpunkt "Internationales Strafrecht und Völkerstrafrecht" im rechtswissenschaftlichen Studium in Marburg angeboten werden.

    Über die angeschnittenen völkerstrafrechtlichen Fragestellungen hinaus erschließen sich weitere Forschungskomplexe. Da die Unterlagen zu den Kriegsverbrecherprozessen in großer Anzahl Dokumente zum NS-Unrechtsystem beinhalten, stehen der historischen Forschung zusätzliche und umfassende Materialsammlungen zur Verfügung. Aber auch politikwissenschaftlich, soziologisch und kriminologisch ausgerichtete Fragestellungen können zum Thema werden. Insgesamt erschließen sich vielfältige und vor allem interdisziplinär ausgerichtete Forschungsansätze.


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    Criteria of this press release:
    History / archaeology, Law, Politics, Social studies
    transregional, national
    Research projects
    German


     

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