Wie funktionieren Prozesse in Zellen? Dieser Frage gehen Wissenschaftler im Sonderforschungsbereich 1027 an der Saar-Uni nach. Der SFB 1027 „Physikalische Modellierung von Nichtgleichgewichts-Prozessen in biologischen Systemen” ist um weitere vier Jahre bis Ende 2020 verlängert worden und wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit zehn Millionen Euro gefördert. Zudem unterstützt die DFG einen neuen Transregio, der sich der mathematischen Grundlagenforschung widmet, mit rund 2,4 Millionen Euro für die Saar-Uni. Federführend ist die TU Kaiserslautern. Daneben sind auch Mathematiker der RWTH Aachen beteiligt.
Presse-Info der Saar-Uni und der saarländischen Staatskanzlei
Menschliche Immunzellen sind hoch spezialisierte Körperzellen, die eine wichtige Rolle bei der Vernichtung von Viren und Bakterien und beim Kampf gegen Krebs spielen. Entdecken sie zum Beispiel Krebszellen, bewegen sie sich auf die kranken Zellen zu und zerstören diese oder rufen andere Zellen im Kampf gegen die kranken Zellen zu Hilfe. Aber welche physikalische Mechanismen stecken hinter diesem Vorgang? Anders formuliert: Warum bewegen sich Immunzellen überhaupt auf Tumorzellen zu? Solche und ähnliche Fragen werden in den Projekten im Bereich „Selbstorganisation und Transport-Prozesse“ bearbeitet. Zwei weitere Forschungsschwerpunkte des SFB lauten „Adhäsion an Membranen und Oberflächen“ sowie „molekulare Kooperativität“.
Grundsätzlich wollen wir ein physikalisches Verständnis von biologischen Prozessen in diesem Sonderforschungsbereich gewinnen, wie wir es heute noch nicht haben“, erklärt Heiko Rieger. Der theoretische Physiker ist einer von zwölf Physikern, die zusammen mit acht Medizinern, einem Bioinformatiker, einem Biologen, und einem Chemiker diesen Fragestellungen nachgehen. Neben 17 Forschern der Saar-Uni sind zwei aus dem Leibniz-Institut für Neue Materialien (INM) auf dem Campus Saarbrücken sowie jeweils einer aus den Universitäten Dresden, Genf, Erlangen und Göttingen beteiligt.
„Physiker versuchen, die detaillierte Sichtweise eines Biologen auf molekulare Prozesse so weit zu abstrahieren und zu einer ‚gröberen’ Beschreibung zu kommen, bis sie allgemein gültige naturwissenschaftliche Prinzipien dahinter erkennen“, erklärt Heiko Rieger. „Wenn wir solche Mechanismen entdecken, können wir sie vermutlich auch auf ähnliche Abläufe in anderen Zellen übertragen und so neue Erkenntnisse gewinnen. Wir werden viele Prozesse in unserem Körper besser verstehen, wenn wir wissen, welche Physik dahinter steckt“, so der Koordinator des Sonderforschungsbereiches weiter. Diese Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung haben unter anderem zum Ziel, Anwendungen in der Medizin zu ermöglichen, die heute noch nicht existieren.
„So haben wir bisher zum Beispiel herausgefunden“, erklärt Heiko Rieger, „dass T-Zellen bei ihrer Suche nach Zielzellen – zum Beispiel Tumorzellen – quasi Hilfe von unbeteiligten Zellen im umgebenden Gewebe zu bekommen scheinen: Je mehr von letzteren vorhanden sind, umso schneller werden die Ziele eliminiert. Es stellte sich natürlich sofort die Frage, wie das möglich ist. Letztlich stellen die unbeteiligten Zellen Hindernisse für die T-Zellen auf ihrer Suche nach den Zielzellen dar. Physikalisch ist dies nur möglich, wenn die unbeteiligten Zellen eine lokal beschleunigende Wirkung auf die Migration der T-Zellen haben, und in der Tat haben wir diese lokale Beschleunigung dann auch experimentell beobachten können. Offensichtlich spielt die Beschaffenheit der Umgebung, in der T-Zellen ihre Ziele suchen, eine große Rolle, und wenn wir in der Lage sind, diese gezielt zu manipulieren, dann kann man dadurch beispielsweise die Immunantwort des Körpers optimieren und Krankheiten besser bekämpfen.“
Der Forschungsverbund hat mittlerweile durch zahlreiche hochrangige Publikationen und vor allem durch die 2014 und 2016 vom SFB in Saarbrücken organisierte internationale Konferenz „Cell Physics“ eine hohe nationale und internationale Sichtbarkeit erlangt. „Exzellente Forscher aus ganz Deutschland und Europa wenden sich mittlerweile an uns, um an den im SFB erforschten Systemen mitzuarbeiten“, betont Heiko Rieger, „wodurch wir nun vier Forscher aus anderen Universitäten (Dresden, Genf, Erlangen und Göttingen) im Verbund haben“. Besonders erfreulich ist die nun erfolgte erfolgreiche Einbindung des INM in den SFB 1027 mit zwei Projekten unter der Leitung von Professorin Aránzazu del Campo Bécares und Professor Niels de Jonge. Wichtig war auch die Integration der gezielt in der Physik für den SFB berufenen Junior-Professorin Franziska Lautenschläger (Experimentalphysik) in den Forschungsverbund.
Die 23 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Natur- und Lebenswissenschaften forschen eng verzahnt in 18 Teilprojekten und einer integrierten Graduiertenschule zur Ausbildung von Doktoranden im Sonderforschungsbereich, dessen Verlängerung durch die beispielhafte Unterstützung von Nachwuchswissenschaftlern und die enge und engagierte Kooperation zwischen Physik und Lebenswissenschaften befördert wurde. Schon vom Wissenschaftsrat wurde in seiner Evaluation der Universität des Saarlandes im Jahre 2014 das hohe interdisziplinäre und integrative Potential des SFB 1027 hervorgehoben, der beispielhaft an der Saar-Uni für die erfolgreiche Nutzung von Synergien zwischen Natur- und Lebenswissenschaften ist.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert den Verbund mit zehn Millionen Euro für die zweite Periode von vier Jahren, nachdem in der ersten Förderperiode 2013 bis 2016 bereits 9,2 Millionen Euro ins Saarland geflossen sind. Fällt das Urteil der Gutachter danach wieder so positiv aus, wird der SFB insgesamt zwölf Jahre lang die grundlegenden physikalischen Mechanismen der Zellen erforscht haben.
Darüber hinaus hat der Bewilligungsausschuss der DFG die Förderung eines neuen Transregio (TRR) beschlossen. Als Transregio werden Forschungsverbünde mehrerer Universitäten bezeichnet. Federführend im TRR „Symbolische Werkzeuge in der Mathematik und ihre Anwendung“ ist die TU Kaiserslautern. Neben Forschern aus Rheinland-Pfalz sind auch Mathematiker der Universität des Saarlandes und der RWTH Aachen an der Erforschung neuer Fragestellungen der Computeralgebra beteiligt.
Computeralgebra ist ein unersetzliches Werkzeug, um mathematische Theorien zu testen, Vermutungen aufzustellen, und (Gegen-)Beispiele zu finden. Kurzum, der Fortschritt in der Mathematik und somit auch in deren zahlreichen Anwendungen beruht jetzt schon wesentlich auf dem Einsatz von Computeralgebra-Systemen. Dieser Trend wird sich in Zukunft noch verstärken.
Umgekehrt liefert die mathematische Spitzenforschung – wie sie zum Beispiel in Saarbrücken in den Arbeitsgruppen der am Transregio beteiligten Forscher (die Professoren Frank-Olaf Schreyer, Roland Speicher und Gabriele Weitze-Schmithüsen sowie Juniorprofessor Moritz Weber) betrieben wird – neue Herausforderungen an Computeralgebra-Systeme.
Aachen, Kaiserslautern und Saarbrücken bilden schon jetzt das weltweit führende Zentrum für Computeralgebra. Durch den neu eingerichteten Transregio streben die Forscher ein neues Niveau von Abstraktion und Performance an, mit dem bislang nicht zugängliche, fundamentale Fragestellungen aus den Gebieten algebraische Geometrie, Gruppentheorie, Quantengruppen, Zahlentheorie und Zufallsmatrizen beantworten werden.
Der Transregio mit einer Gesamt-Fördersumme von rund 7,5 Millionen Euro ist zunächst für vier Jahre eingerichtet worden und hat eine geplante Gesamtlaufzeit von zwölf Jahren. Etwa 2,4 Millionen Euro davon fließen in der ersten Förderperiode an die Universität des Saarlandes.
„Mit der Bewilligung des Antrags auf Fortsetzung dieses saarländischen Sonderforschungsbereichs und der Einrichtung des Transregios unter saarländischer Beteiligung anerkennt die DFG die herausragenden Leistungen der involvierten Forscherinnen und Forscher und ebenso die Attraktivität des Saarlandes als Wissenschafts- und Forschungsstandort. Die Universität des Saarlandes kann im Bereich der Spitzenforschung im nationalen wie internationalem Vergleich mithalten! Den beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gehört meine vollste Anerkennung für ihr Engagement und ihre exzellenten Leistungen und ich wünsche ihnen für die kommenden Jahre viel bzw. weiterhin viel Erfolg“, erklärte Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer. Im Rahmen der gesamtstaatlichen Bund-Länder-Finanzierung ist die Staatskanzlei an der Finanzierung der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit jährlich rund zehn Millionen Euro beteiligt.
Universitätspräsident Volker Linneweber sagt zur Verlängerung des SFB und zur Einrichtung des Transregio: „Inzwischen ist der Wissensstand in vielen Forschungsgebieten so tiefgehend, dass die Verschmelzung von Physik, Biologie, Informatik und Materialforschung an manchen Stellen Erkenntnisse zutage fördert, die vor wenigen Jahrzehnten noch undenkbar schienen. Das zeigt der hiesige Sonderforschungsbereich sehr eindrucksvoll. Untermauert wird dies auch vom Votum der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die nur selten Anträge auf Sonderforschungsbereiche derart positiv bewertet, wie dies beim SFB 1027 der Fall ist. Dass die DFG in derselben Sitzung nun auch beschlossen hat, die mathematische Spitzenforschung im Land zu fördern, ist der beste Beweis für die unübersehbare Stärke des Forschungsstandorts. Es gibt es 107 antragsfähige Universitäten bundesweit. Dass die Universität des Saarlandes sechs von insgesamt 264 geförderten SFBs und 69 geförderten Transregios einwerben konnte, ist ein exzellentes Ergebnis.“
Kontakt zum SFB 1027:
Prof. Dr. Heiko Rieger
Tel.: (0681) 3023639
E-Mail: h.rieger@mx.uni-saarland.de
Kontakt zum TRR 195:
Prof. Dr. Frank-Olaf Schreyer
Tel.: (0681) 302 2785
E-Mail: schreyer@math.uni-sb.de
Pressefotos von Professor Rieger und Professor Schreyer finden Sie unter www.uni-saarland.de/pressefotos. Bitte beachten Sie die Nutzungsbedingungen.
http://www.sfb1027.uni-saarland.de/
http://www.dfg.de/service/presse/pressemitteilungen/2016/pressemitteilung_nr_51
Criteria of this press release:
Journalists, Scientists and scholars
Biology, Mathematics, Physics / astronomy
regional
Cooperation agreements, Research projects
German
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