In einer Kunstausstellung haben alle Besucher die gleiche Chance bedeutende Bilder und Objekte der Kunstgeschichte zu betrachten. Aber die gleiche Chance sie zu verstehen, haben sie nicht: Welche Aspekte ein Besucher an einem Kunstwerk wahrnimmt und versteht, ist abhängig von dessen Vorwissen und Erfahrung. Forscher am Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM) haben untersucht, wie sich kunsthistorische Expertise im Wechselspiel zwischen „Sehen und Verstehen“ von Bildern niederschlägt.
Tübingen, 23.03.2017: Was sieht und versteht ein Laie, wenn er ein Bild betrachtet, was ein Kunstexperte? Das erforschten die beiden Wissenschaftler vom IWM, Prof. Dr. Stephan Schwan und Dr. Daniela Bauer, anhand von Renaissance-Porträts. Diese Gemälde werden von realistisch dargestellten Personen dominiert. Um wen es sich handelt, kann in der Regel anhand von Gegenständen und Symbolen erkannt werden, die auf dem Gemälde mit abgebildet sind. Diese beigefügten Details sind ausschlaggebend für die Interpretation eines Renaissance-Porträts, da sie dem Betrachter Auskunft geben über die soziale Stellung, den Beruf oder die Herkunft der Dargestellten. Experten der Kunstgeschichte unterscheiden sich von Laien also nicht nur darin, dass sie mehr über ein Kunstwerk wissen, sondern auch darin, welchen Aspekten im Kunstwerk sie besondere Beachtung schenken und welchen nicht. Um Unterschiede im Rezeptionsprozess von Experten und Laien beim Betrachten von Renaissance-Porträts zu erfassen, wurden in einer Laborstudie sowohl „lautes Denken“ als auch Blickbewegungen der Teilnehmenden aufgezeichnet.
Bei einem Vergleich der Daten sind charakteristische Unterschiede zwischen den Experten und Laien festzustellen: Unerfahrene Kunstbetrachterinnen und Kunstbetrachter sind mit ihren Augen mehr auf menschliche Details, wie z. B. Hände oder Gesicht der Dargestellten fokussiert und richten ihre Aufmerksamkeit verstärkt auf Abgebildetes im Bildzentrum, was man auch als „central bias“ bezeichnet. Experten dagegen zeigen sich in ihrem Blickverhalten freier und flexibler: Sie lenken ihren Blick auf Bildaspekte, von denen sie sich einen hohen Informationswert für die Bildinterpretation versprechen – und das sind bei Renaissance-Porträts neben den abgebildeten Personen die ihnen beigefügten, spezifischen Attribute. Auch in den Gedankenprotokollen der Teilnehmenden konnten die Forscher Unterschiede entdecken: Laien beschreiben viel, was sie sehen und lassen sich in ihren Interpretationen von spontanen Einfällen und Assoziationen leiten. Für Experten ist die Bildbeschreibung der erste Schritt vor einer ausgiebigen Interpretation: Detailbeobachtungen werden für sich alleine gedeutet, in Zusammenhang gestellt und die gefundenen Interpretationen gezielt durch die Suche weiterer Bildaspekte untermauert. Bildbetrachtung bei Kunstexperten ist also ein strukturierter Prozess, bei dem gezieltes Sehen und Verstehen schrittweise zusammenwirkt.
Für die Museumspraxis bedeutet das, dass selbst wenn Informationstexte für jedes Objekt vorhanden sind, Kuratoren nicht davon ausgehen können, dass Museumsbesucher alle für das Verständnis eines Bildes wichtigen Aspekte wahrnehmen und in Beziehung setzen können. Um das Fehlen des geschulten Sehens zu kompensieren, müssen dem Besucher Anhaltspunkte gegeben werden, worauf er seine Aufmerksamkeit lenken soll, um die angebotene Information verorten zu können. Audioguides und mobile, digitale Anwendungen mit Angaben von Details und Blickrichtungen können Museumsbesucher dabei unterstützen, die wichtigen Bereiche und Inhalte eines Bildes zu erfassen und damit die Zusammenhänge im Gemälde besser zu verstehen. Dadurch kann für Laien eine Bildbetrachtung bereichert und die häufig differenzierten Ausstellungskonzepte können deutlicher vermittelt werden.
Kontakt
Dr. Daniela Bauer, Germanisches Nationalmuseum (GNM), Telefon: +49 911 1331-395, E-Mail: d.bauer@gnm.de
Prof. Dr. Stephan Schwan, Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM), Arbeitsgruppe Realitätsnahe Darstellungen, Telefon: +49 7071 979-228, E-Mail: s.schwan@iwm-tuebingen.de
Das Leibniz-Institut für Wissensmedien
Das Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM) in Tübingen erforscht, wie digitale Technologien eingesetzt werden können, um Wissensprozesse zu verbessern. Die psychologische Grundlagenforschung der rund 110 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist auf Praxisfelder wie Schule und Hochschule, auf Wissensarbeit mit digitalen Medien, wissensbezogene Internetnutzung und Wissensvermittlung in Museen ausgerichtet. Von 2009 bis 2016 unterhielt das IWM gemeinsam mit der Universität Tübingen Deutschlands ersten Leibniz-WissenschaftsCampus (WCT) zum Thema „Bildung in Informationsumwelten“, der ab 2017 als Nachfolgeprojekt unter dem Titel „Kognitive Schnittstellen“ weitergeführt wird.
Kontakt & weitere Informationen zum Leibniz-Institut für Wissensmedien
Dr. Evamarie Blattner, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Leibniz-Institut für Wissensmedien, Schleichstraße 6, 72076 Tübingen,
Telefon: +49 7071 979-222, E-Mail: presse@iwm-tuebingen.de
Die Leibniz-Gemeinschaft
Die Leibniz-Gemeinschaft verbindet 91 selbständige Forschungseinrichtungen. Ihre Ausrichtung reicht von den Natur-, Ingenieur- und Umweltwissenschaften über die Wirtschafts-, Raum- und Sozialwissenschaften bis zu den Geisteswissenschaften. Leibniz-Institute widmen sich gesellschaftlich, ökonomisch und ökologisch relevanten Fragen.
Sie betreiben erkenntnis- und anwendungsorientierte Forschung, auch in den übergreifenden Leibniz-Forschungsverbünden, sind oder unterhalten wissenschaftliche Infrastrukturen und bieten forschungsbasierte Dienstleistungen an. Die Leibniz-Gemeinschaft setzt Schwerpunkte im Wissenstransfer, vor allem mit den Leibniz-Forschungsmuseen. Sie berät und informiert Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Öffentlichkeit.
Leibniz-Einrichtungen pflegen enge Kooperationen mit den Hochschulen u. a. in Form der Leibniz-WissenschaftsCampi, mit der Industrie und anderen Partnern im In- und Ausland. Sie unterliegen einem transparenten und unabhängigen Begutachtungsverfahren. Aufgrund ihrer gesamtstaatlichen Bedeutung fördern Bund und Länder die Institute der Leibniz-Gemeinschaft gemeinsam. Die Leibniz-Institute beschäftigen rund 18.600 Personen, darunter 9.500 Wissenschaftlerin-nen und Wissenschaftler. Der Gesamtetat der Institute liegt bei mehr als 1,7 Milli-arden Euro.
Criteria of this press release:
Journalists, Scientists and scholars
Art / design, Cultural sciences, Psychology, Social studies, Teaching / education
transregional, national
Research results
German
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