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11/05/2003 16:15

Verlorener Sohn kehrt zurück

Jens Panse Pressestelle
Universität Erfurt

    Wertvolle Handschrift aus dem 17. Jahrhundert an die Universitätsbibliothek übergeben

    Die Universität Erfurt hat heute (5. November 2003) eine wertvolle Handschrift als Dauerleihgabe in den Bestand der Universitätsbibliothek erhalten. Es handelt sich dabei um eine Chronik des Erfurter Blaufärbermeisters Hans Krafft aus dem 17. Jahrhundert. Sie wurde von der Besitzerin, Eva Locher aus Ratingen/Rheinland, an den Ort, an dem sie ursprünglich entstanden war, zurückgebracht.

    Seit dem 17. Jahrhundert hat die Handschrift eine Odyssee hinter sich. Sie tauchte zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem Angebot eines Altwarenhändlers zuerst in einem Erfurter, dann in einem Jenaer Antiquariat wieder auf, war dann im Besitz eines Thüringer Lehrers aus Striebitz (bei Dornberg), bevor sie 1991 von der jetzigen Besitzerin erworben und zeitweilig in der Universitätsbibliothek Leipzig deponiert wurde. Nach längerer wissenschaftlich-diplomatischer Vermittlungsarbeit durch Professor Hans Medick von der Arbeitsstelle Historische Anthropologie der Universität Erfurt konnte die Handschrift nun in einem kleinen Festakt der Handschriftensammlung der Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha übergeben werden.

    Der Umgang von Geschichtsinteressierten und Historikern mit der Handschrift soll durch eine digitale Edition erleichtert werden, die Prof. Medick unter Mitarbeit von Dr. Andreas Bähr und Jörg Schmidt M.A. und in Zusammenarbeit mit dem historischen Fachinformatiker Dr. Norbert Winnige vom Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte erstellt hat. Sie wird das gescannte Original der Handschrift im Internet verfügbar machen, zusammen mit einer modernisierten maschinenschriftlichen Abschrift des Textes, die mit einem erklärenden Anmerkungsapparat versehen ist. Dieses Stück Forschung zur Erleichterung der Arbeit mit Geschichtsquellen soll ab Anfang 2004 über die "Digitale Bibliothek Thüringen" zugänglich sein. Dort wird es als Teil des elektronischen Textarchivs Gotha/Erfurt (TARGET) der Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha öffentlich von jedem Bildschirm mit Internetzugang einsehbar sein.

    Den besonderen wissenschaftlichen Wert dieser Handschrift sieht Medick in dem Umstand, dass es sich bei der Chronik des Hans Krafft gerade nicht um die Aufzeichnungen eines akademisch Gebildeten seiner Zeit, sondern um das chronikalische Selbstzeugnis eines einfachen Erfurter Handwerkers handelt. "Diese Selbst- und Zeitzeugnisse einfacher Menschen aus vergangenen Zeiten haben in den letzten Jahren ein immer stärkeres Interesse seitens der geschichtsinteressierten Öffentlichkeit und der Geschichtsforschung erfahren". Dieses Interesse werde auch der Chronik des Handwerkmeisters zugute kommen, zeigt sich Medick überzeugt.

    Ihr Verfasser wurde 1584 in Erfurt geboren. Er lebte, erlebte und arbeitete hier für mehrere Jahrzehnte, bevor er im Jahr 1664 starb. Kraffts erwachsenes Leben verlief in den bewegten Krisen- und Kriegszeiten des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) und in den Jahren unmittelbar danach, also in Jahrzehnten, in denen die Stadt Erfurt die wohl schwerste Zeit ihrer Geschichte mitmachte. Krieg, Plünderungen und schwerste Besteuerung wurden alltäglich und mit ihnen entsprechende Leiden der Bevölkerung. Der Erfurter Waidhandel und Waidanbau und damit die Grundlage Erfurts als Wirtschaftsstandort fielen in völligen Ruin. Die Konflikte zwischen Protestanten und Katholiken, die durch fremde Heere, sei es der Schweden oder der Kaiserlichen verschärft wurden, erschütterten die Stadt. In dieser Zeit und über diese Zeit schrieb Hans Krafft seine Chronik, nah an den Erfahrungen der Zeit, aber durchaus im eigenen Stil.

    "Charakteristisch für die Schrift ist, dass sie die Merkmale einer Familienchronik mit der einer Stadtchronik aus der persönlichen Perspektive eines politisch engagierten protestantischen Bürgers vereint", so Medick. Gewissenhaft notiert der Verfasser die Ereignisse des Lebens und Sterbens seiner zahlreichen Familienmitglieder. Emotionale Betroffenheit und Trauer über die zahlreichen Todesfälle - von 4 Ehefrauen starben drei solange er lebte - ist nur indirekt spürbar, etwa während der großen Pestkrise von 1626.

    Der Hauptteil der Handschrift ist der Chronistik der Ereignisse der großen und kleinen Geschichte Erfurts gewidmet. Häufig zeigt sich hierbei Hans Krafft als ein engagierter, zuweilen auch am Geschehen beteiligter kritischer Erfurter Bürger. Etwa, wenn er das protestantische Jubelfest anlässlich des großen Sieges des Schwedenkönigs Gustav Adolf über das kaiserlich-ligistische Heer in der Schlacht bei Breitenfeld vom 7. September 1632 darstellt. Er macht diese Feier auch noch in seiner rückblickenden Darstellung zu seiner eigenen Sache und stellt seine Teilnahme an der gewaltsamen Eroberung und Besetzung des katholischen Doms durch Erfurter Protestanten dar, wo mit einer Predigt und dem gewaltigen Klang von zwei Orgeln, Lauten, Harfen, Pauken, Pfeifen und Geigen ein evangelischer Danksgottesdienst abgehalten wurde (eventuell unterhalb dieser Stelle die Abbildung von Faksimile und Text aus der Kraftschen Chronik setzen!).

    Zwischen persönlicher Betroffenheit, Reflexion und Bürgerengagement bewegen sich auch die schriftlichen Reaktionen des Erfurter Färbermeisters auf Maßnahmen der Ratsherren der Stadt, die seiner sozialen Erwartungshaltung widersprechen. So beklagt er anlässlich der durch Missernte und kriegsbedingten Steuerdruck verursachten Hungersnot von 1639 betroffen den Geiz der "Obersten und Reichen" der Stadt und die durch sie verschuldete mangelnde Preis- und Verteilungsgerechtigkeit bei Lebensmitteln:

    "Sieh, was der leidige Geiz nicht tut, wo bleibet die brüderliche Liebe, dass sie (d.h. die Obersten und Reichen) das Korn netzen (d.h. horten), Wein und Bier verfälschen. Die ganze Welt ist voller Diebe, so dass die Teuerung des Eigennützigen, die alles vertreibt und verzehrt, sogar als Gemeinnutz angeführt wird."

    "Diese und viele andere vom Chronisten notierte kleine und große Ereignisse aus der Leidens-, Überlebens- und Gewaltgeschichte der Stadt in den krisenhaften Zeiten des 17. Jahrhunderts verschaffen uns Einblick in die Geschichtswahrnehmung und zuweilen auch das Empfinden eines einfachen Bürgers. Sie sind auch noch für die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen des 21. Jahrhunderts aller Aufmerksamkeit wert", so Medick abschließend.

    Bei Bedarf übersenden wir Ihnen eine pdf-Datei aus der digitalen Edition.


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    Criteria of this press release:
    History / archaeology, Language / literature
    regional
    Research projects, Scientific Publications
    German


     

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