Friedrichshafen/Berlin. Theater, Konzerthäuser, Opern und Museen könnten die Zahl ihrer Besucherinnen und Besucher um rund 75 Prozent steigern, wenn sie sich stärker an den Erwartungen und Bedürfnissen ihres Publikums orientierten. Das sagt der Kulturwissenschaftler Professor Dr. Martin Tröndle, Inhaber des WÜRTH Chair of Cultural Production an der Zeppelin Universität (ZU) in Friedrichshafen. „Enormes Potential liegt insbesondere im Kreis der bisherigen Selten- und Nichtbesucher, die immerhin mehr als die Hälfte der bundesdeutschen Bevölkerung stellen“, erklärt Tröndle.
In seinem neuen Buch „Nicht-Besucherforschung. Audience development für Kultureinrichtungen“ gibt er Empfehlungen, wie diese bislang weitgehend unerforschte Gruppe zu erreichen ist. Die Stiftung Würth, der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, die Deutsche Oper Berlin, die Neuköllner Oper und die Schaubühne Berlin haben das Projekt unterstützt.
Kultureinrichtungen für ihre Besucher da, nicht umgekehrt
„Kultureinrichtungen stellen bis heute zumeist die Kunst ins Zentrum, selten den Menschen“, stellt Tröndle fest. „Dabei sind Kultureinrichtungen für ihre Besucherinnen und Besucher da, nicht umgekehrt. Ohne die Autonomie der Kunst einzuschränken, bedeutet dies, danach zu fragen, wie auch die Besucherinnen und Besucher in den Fokus der Kultureinrichtungen rücken können.“ Zwar gebe es Bemühungen, zielgruppenorientiert mit der Programm- und Themensetzung ein neues Publikum zu erreichen. Diese gingen aber aus Tröndles Sicht nicht weit genug: „Was benötigt wird, ist eine Veränderung der Perspektive. Der Bezugsrahmen der Kultureinrichtungen wäre dann nicht mehr ausschließlich die Kunstproduktion, sondern die Nähe zu den Besucherinnen und Besuchern.“
Tröndle hat die weltweit erste umfangreiche Studie zur Nicht-Besucherforschung vorgelegt. Als „Nichtbesucher“ gelten in der Studie Personen, die weniger als einmal in den vergangenen zwölf Monaten eine Opern- oder Theatervorstellung oder ein Konzert mit klassischer und zeitgenössischer Musik besucht haben. Mit seinem Team befragte Tröndle in einem ersten Schritt in Berlin und Potsdam 1264 Studierende zu Freizeitverhalten, Bildungsherkunft, Kunstaffinität und Besuchsbarrieren für Kulturveranstaltungen. Da inzwischen mehr als 55 Prozent eines Jahrgangs studieren, stellen die Akademikerinnen und Akademiker künftig mehr als die Hälfte der bundesdeutschen Bevölkerung. Sie repräsentieren einen Großteil des zukünftigen Publikums.
In einem zweiten Schritt wurden rund 80 Teilnehmende der ersten Studie, die sich als Nichtbesucher herausgestellt hatten, zu Aufführungen der Deutschen Oper Berlin, der Neuköllner Oper und der Schaubühne Berlin eingeladen. Vor und nach der Vorstellung wurden sie befragt. „Unser Ziel war es, durch die Kombination von statistischem und experimentellem Herangehen nicht nur Vorurteile über Kulturinstitutionen zu erfahren, sondern das Erleben der Nichtbesucher in den Kulturorganisationen selbst zu analysieren“, sagt Tröndle.
Nähe ist entscheidend
Die Ergebnisse der Studie zeigen folgende Faustregel auf: „Je näher die Kunst den jungen Menschen ist, desto eher besuchen sie Kultureinrichtungen“, erklärt Tröndle. Nähe müsse als „vieldimensionaler Begriff“ verstanden werden: Er impliziere Nähe zur Kunst durch die Sozialisation im Elternhaus, durch Wissen über Kunst, durch eigene künstlerische Tätigkeiten, durch den Kontakt mit Kunst in der Schule, im Freundeskreis und beim Besuch von Kultureinrichtungen, durch den eigenen Musikgeschmack und Freizeitpräferenzen sowie durch das Angebot und das Ambiente der Kulturorganisationen.
Erstmalig zeigt die Studie differenziert den Zusammenhang von eigener künstlerischer Tätigkeit und dem Besuch einer Kultureinrichtung sowie die Effekte von Bildung und sozialer Herkunft. Auch die Bildung der Eltern hat auf den Besuch von Oper, Theater, Ballett und klassischem Konzert einen klaren Effekt, am größten ist er, wenn ein Elternteil Geisteswissenschaftler, der andere Kunst- oder Kulturwissenschaftler oder Künstler ist. Weiter zeigt die Studie, dass das Spielen eines Instrumentes zwar einen positiven, aber keinen durchschlagenden Effekt auf den späteren Besuch hat.
Zeit sei nicht der Hauptfaktor, der über einen Kulturbesuch entscheide, so Tröndle. „Wie wir zeigen konnten, verfügen Nichtbesucher sogar über mehr freie Zeit als Besucher.“ Die Untersuchung brachte andere Gründe für den Nichtbesuch hervor. Einer davon: Die Möglichkeit, eine Kultureinrichtung in Begleitung mit jemandem Vertrauten zu besuchen, ist ein ausschlaggebendes Moment. Tröndle: „96 Prozent aller Befragten gaben an, Ballett, Theater, Oper oder klassisches Konzert nicht allein, sondern in Begleitung besuchen zu wollen. Auch hier muss Nähe hergestellt werden, um die Motivation zu erzeugen.“ Allerdings gebe es kaum Kultureinrichtungen, die auf diesen Punkt bewusst eingingen.
Wesentlich für die Entscheidung junger Menschen seien zudem die persönliche Empfehlung und das Internet; das klassische Tageszeitungs-Feuilleton dagegen habe fast keinen Einfluss mehr. Lediglich 25 Prozent der Probanden nahmen Kultureinrichtungen und ihr Angebot überhaupt bewusst wahr – bei 75 Prozent seien Kultureinrichtungen mit ihren Kanälen nicht in deren Lebenswelt verankert.
Für Tröndle geht es mit Blick auf die Akzeptanz und Attraktivität von Kultureinrichtungen daher „nicht darum, Barrieren abzubauen, sondern darum, Nähe aufzubauen“. Kulturpolitik und Kultureinrichtungen sollten ein Interesse entwickeln, zumindest einmal im Jahr jeden Nichtbesucher in ihr Haus zu locken. „Es müssen verstärkt Nichtbesucher-Programme erdacht werden“, meint Tröndle. „Das Potential neuer Besucherinnen und Besucher ist vorhanden.“
Criteria of this press release:
Journalists, Scientists and scholars, Students, Teachers and pupils
Cultural sciences, Music / theatre, Social studies
transregional, national
Research results, Transfer of Science or Research
German
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