idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instance:
Share on: 
09/11/2019 20:00

"Form ist Funktion"

Katja Schulze Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung

    Flüssigkeitsähnliches Verhalten von Gewebe ist ein Schlüsselprinzip für die Entstehung von Formen in biologischen Systemen.

    Forscher am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam haben gezeigt, dass sich wachsendes Knochengewebe auf langen Zeitskalen wie eine viskose Flüssigkeit verhält und dadurch Formen mit minimaler Oberfläche annimmt. Dieses Verhalten der Zellen bestimmt die Form des Gewebes, wenn es auf ein Gerüst aufwächst.

    Eine besondere Stärke und gleichzeitig faszinierende Eigenschaft lebender Systeme ist ihre Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Umweltbedingungen. Diese Fähigkeit besitzt auch der menschliche Knochen. Dieser wird laufend durch An- und Abbau kleiner Knochenpakete erneuert. Dieser Umbauprozess wird nach mechanischen Prinzipien über einen Regelkreis kontrolliert. Dadurch besitzt Knochen die Fähigkeit sich ändernden mechanischen Anforderungen anzupassen. Als Reaktion auf veränderte mechanische Belastungen, etwa durch regelmäßige Sportaktivitäten, ändert der Knochen seine Struktur und passt seine innere Form an. Unter welchen Bedingungen sich Knochengewebe bestmöglich züchten lässt, hat John Dunlop, ehemaliger Arbeitsgruppenleiter am Potsdamer Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung und jetzt Professor für Biophysik an der Universität Salzburg mit seinem Team untersucht.

    Biologische Strukturen werden von Zellen erzeugt, die viel kleiner sind als die entstehende Form. Die Zellen sind sogar dazu in der Lage die Krümmung einer Oberfläche zu ertasten, die viel größer ist als sie selbst. Doch wie gelingt es den Zellen, komplexe makroskopische Formen zu erzeugen oder bei der Knochenheilung die ursprüngliche Form wiederherzustellen? „Eine partielle Antwort auf diese Frage könnte die Erkenntnis aus dieser Arbeit sein, dass Zellen Oberflächenenergie für die Formbildung nutzen, auf ähnliche Weise wie komplexe Gebilde auf Grund der Oberflächenenergie aus Seifenblasen entstehen können.“ sagt Peter Fratzl, Direktor am Potsdamer Max-Planck-Institut und Koautor der Studie, an der auch Forscher von der Berliner Charité, aus Würzburg, aus Dresden und von der Montanuniversität Leoben beteiligt waren.

    Formen mit konstanter mittlerer Krümmung
    Die Forscher konnten zeigen, dass Gewebe, welches auf gekrümmten Oberflächen wuchs, Formen mit Außengrenzen konstanter mittlerer Krümmung entwickelte. Diese ähneln sehr stark Formen von Flüssigkeitstropfen, die eine minimale Oberfläche annehmen. Als Substrate für das Zell- und Gewebewachstum dienten gekrümmte Oberflächen aus Kunststoff, die Sebastian Ehrig während seiner Doktorarbeit herstellte. Dabei wurde ein flüssiges Polymer verwendet, das sich bei hohen Temperaturen verfestigt und mit dem Substrat mit unterschiedlichen Geometrien hergestellt wurde, auf denen die Zellen wachsen und neues Gewebe bilden konnten. Die Menge des gebildeten Gewebes hing dabei von der Form des Substrats ab. Dabei fiel auf, dass auf stark konkaven Oberflächen mehr Gewebe gebildet wurde, was auf einen mechanisch induzierten biologischen Rückkopplungsmechanismus hinweist.

    Durch Hemmung der Zellkontraktilität konnte nachgewiesen werden, dass aktive Zellkräfte notwendig sind, um ausreichende Oberflächenspannungen für das flüssigkeitsähnliche Verhalten und das Wachstum des Gewebes zu erzeugen. „Dies legt nahe, dass die mechanische Signalübertragung zwischen Zellen und ihrer physischen Umgebung zusammen mit der kontinuierlichen Reorganisation von Zellen und Matrix ein Schlüsselprinzip für die Entstehung der Gewebeform ist.“ unterstreicht Sebastian Ehrig, Erstautor und ehemaliger Doktorand am MPI für Kolloid- und Grenzflächenforschung, der jetzt am Max-Delbrück Center in Berlin forscht.

    Chirale Strukturen
    Mithilfe der Lichtblattmikroskopie konnten Einblicke in die räumliche Gewebestruktur gewonnen werden, wobei eine weitere bemerkenswerte Entdeckung gemacht wurde: Die Zellen ordneten sich zu ausgedehnten chiralen Strukturen an, die sich spiralförmig um die Kapillarbrücken schlängelten. Ähnliche Strukturen findet man auch in Osteonen, die kleinste Funktionseinheit des Knochens. Ein Osteon entsteht, indem sich knochenbildende Zellen (Osteoblasten) konzentrisch in 4-20 Schichten um ein Blutgefäß lagern, einmauern und zu Lamellenknochen werden.

    Die hier vorgelegte Publikation legt nahe, dass flüssigkeitsähnliches Gewebeverhalten ein Schlüsselprinzip für die Entstehung von Formen in biologischen Systemen ist. Dies könnte weitreichende Konsequenzen haben im Hinblick auf das Verständnis von Heilungsprozessen und der Organentwicklung und auch für medizinische Anwendungen wie der Entwicklung von Implantaten relevant sein.


    Original publication:

    S. Ehrig, B. Schamberger, C. M. Bidan, A. West, C. Jacobi, K. Lam, P. Kollmannsberger, A. Petersen, P. Tomancak, K. Kommareddy, F. D. Fischer, P. Fratzl, John W. C. Dunlop
    Surface tension determines tissue shape and growth kinetics
    Sci. Adv. 2019; 5: eaav9394


    More information:

    http://www.mpikg.mpg.de/6166385/news_publication_13874437_transferred


    Images

    L: Phasenkontrastbilder eines auf einer Kapillarbrücke gewachsenen Gewebes. R: Mit fluoreszierendem Marker eingefärbtes Skelett der Zellen, um sie mit Lichtblattmikroskopie in 3D sichtbar zu machen.
    L: Phasenkontrastbilder eines auf einer Kapillarbrücke gewachsenen Gewebes. R: Mit fluoreszierendem ...
    Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung/Sebastian Ehrig
    None


    Criteria of this press release:
    Journalists
    Biology, Materials sciences, Medicine, Physics / astronomy
    transregional, national
    Research results
    German


     

    L: Phasenkontrastbilder eines auf einer Kapillarbrücke gewachsenen Gewebes. R: Mit fluoreszierendem Marker eingefärbtes Skelett der Zellen, um sie mit Lichtblattmikroskopie in 3D sichtbar zu machen.


    For download

    x

    Help

    Search / advanced search of the idw archives
    Combination of search terms

    You can combine search terms with and, or and/or not, e.g. Philo not logy.

    Brackets

    You can use brackets to separate combinations from each other, e.g. (Philo not logy) or (Psycho and logy).

    Phrases

    Coherent groups of words will be located as complete phrases if you put them into quotation marks, e.g. “Federal Republic of Germany”.

    Selection criteria

    You can also use the advanced search without entering search terms. It will then follow the criteria you have selected (e.g. country or subject area).

    If you have not selected any criteria in a given category, the entire category will be searched (e.g. all subject areas or all countries).