In schwierigen Zeiten sind die Menschen für einander da. Dafür gibt es gerade schöne Beispiele. Warum man sich solidarisch verhalten und trotzdem Klopapier klauen kann, erklärt Politikwissenschaftler Prof. Achim Goerres von der Universität Duisburg-Essen (UDE).
Herr Goerres, was ist Solidarität eigentlich?
Es ist die Bereitschaft, etwas für andere zu tun, ohne dass man in dem Moment etwas zurückbekommt.
Ist man also selbstlos?
Das mag auf den ersten Blick so wirken. Aber dem ist nicht so. Wenn ich für meinen Nachbarn einkaufe, weil der in Quarantäne ist, macht mir meine Hilfsbereitschaft ein gutes Gefühl. Allein das bringt mir schon etwas.
Solidarisches Verhalten entsteht auch nie aus einer einzigen Motivation heraus, es gibt mehrere Triebfedern: Ich kann etwas für andere tun, weil ich denke, dass das meinem Wesen entspricht – meine Identität motiviert mich also. Ich kann das machen, weil ich das so gelernt habe. Damit entspreche ich einer verinnerlichten Norm. Ich kann mich drittens solidarisch verhalten aus egoistischem Kalkül. Denn ich investiere langfristig in einen Hilfevertrag – heißt: Ich helfe dir heute und erwarte, dass du das ggf. später auch für mich tust. Viele nachbarschaftliche Beziehungen sind so aufgebaut. Solidarität hat viel mit Gegenseitigkeit zu tun.
Warum brauchen wir die als Gesellschaft überhaupt?
Um mit Gefahren und Risiken umzugehen. Indem wir ein Solidaritätssystem produzieren – sei es auf sozialer Ebene (etwa Nachbarschaftshilfe) oder auf politischer Ebene (etwa Krankenversicherung) –, können wir als Gemeinschaft viel besser mit solchen Gefahren umgehen. Corona ist gerade ein schönes Beispiel. Jeder von uns hat eine bestimmte Wahrscheinlichkeit, hieran zu erkranken. Es macht für mich also Sinn, ein allgemeines Solidaritätssystem zu unterstützen, das COVID 19-Patienten hilft, weil ich selbst davon profitieren könnte.
Werden die Leute durch die Corona-Krise denn egoistischer oder solidarischer?
Die Frage ist falsch! Es ist nicht ein „entweder oder“. Solidarisches Verhalten und egoistische Motivation sind zwei unterschiedliche Dinge. Manchmal sind sie kongruent, manchmal nicht. Sie können jemandem das Klopapier aus dem Einkaufswagen klauen und danach für den Nachbar kochen und mit ihm das Klopapier teilen.
Was mich an Solidarität fasziniert: Wenn etwas Schlimmes passiert, geht sie erst mal hoch, sei es bei Krieg oder Corona.
Ist Corona ein Real-Experiment für Solidarität?
Wahrscheinlich ja. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht finde ich zwei Sachen interessant: 1. die Omnipräsenz – jeder kann erkranken. 2. Die Gefahr geht über soziale Kategorien hinweg. Das wäre etwa in einer Wirtschaftskrise anders: Dann kommen Meinungen auf, dass bestimmte Menschen z.B. nicht von einer Arbeitslosenversicherung profitieren sollten.
Wenn Menschen überlegen, anderen zu helfen, neigen sie dazu, etwas anzuwenden, das wir Deservingness Heuristic nennen: Ist derjenige, der meine Hilfe benötigt, selbst schuld an seiner Situation? Bei Corona würde das niemand fragen. Die Bereitschaft, anderen Gutes zu tun, ist damit relativ groß.
Sie beginnen gerade ein großes Forschungsprojekt zu politischer Solidarität, für das Sie den künstlichen Online-Staat Novaland erschaffen. Was nehmen Sie aus der Corona-Krise mit?
Für mich ist es gerade eine eigenartige Erfahrung. Ich wünschte, ich hätte mit meinem Projekt schon angefangen. In Novaland werde ich nämlich auch Pandemieszenarien erzeugen. Leider haben die Teilnehmer dann gerade eine erlebt. Schöner wäre es gewesen, ich hätte ein Davor und Danach gehabt.
Aber Corona bestärkt mich als Politikwissenschaftler natürlich, Solidarität zu untersuchen.
Die große Frage ist: Was passiert danach?
Und?
Da bin ich pessimistisch. Wir werden auf unser altes solidarisches Niveau zurückfallen. Aber die Politik hat nach einer Krise andere Möglichkeiten und kann neue Institutionen fürs Gemeinwohl schaffen. Nach 1945 ist so der National Health Service im Vereinigten Königreich entstanden. Wir in Deutschland sind heute auf einem hohen Niveau. Für Länder wie Indien, die keinen nennenswerten Wohlfahrtstaat haben, könnte Corona hingegen etwas in Gang setzen.
Zu Person:
Prof. Achim Goerres (42) ist Politikwissenschaftler an der UDE; er forscht u.a. zur politischen Solidarität. Für sein aktuelles Projekt Politsolid hat er einen hochdotierten ERC Consolidator Grant erhalten – bundesweit der erste in den Politikwissenschaften (https://www.uni-due.de/2019-12-10-erc-grant-fuer-achim-goerres).
http://www.achimgoerres.de
Prof. Dr. Achim Goerres, Empirische Politikwissenschaft, Tel. 0203/37 9-3615, achim.goerres@uni-due.de
Criteria of this press release:
Journalists, all interested persons
Politics, Social studies
transregional, national
Miscellaneous scientific news/publications
German
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