Künstliche Intelligenz und 80.000 altchinesische Gedichte zeigen, wie strenge Strukturen die Wahrnehmung von Gedichten erleichtern
Gedichte sind als ästhetische Artefakte in allen menschlichen Kulturen tief verwurzelt. Doch trotz ihrer Verbreitung werden die neuronalen Mechanismen, die bei der Wahrnehmung von Gedichten im Gehirn ablaufen, nur selten untersucht. Mit einer Kombination von künstlicher Intelligenz und Neurophysiologie konnte ein internationales Team aus Forschern der Max-Planck-Institute für empirische Ästhetik (Frankfurt a.M.) und für Psycholinguistik (Nijmegen), von Google, der New York University Shanghai und der East China Normal University erstmals zeigen, dass die streng strukturierte Form von Gedichten ihre Wahrnehmung erleichtert.
Poetische Sprache weicht in der Regel von Alltagsprache ab. Einzigartige, oft ungewöhnliche Wortkombinationen werden gewählt, um die poetische Wirkung zu maximieren. Diese Abweichungen finden sich insbesondere in der festgelegten Vers- oder Reimstruktur von Gedichten. Aber warum ist Lyrik im Vergleich zu anderen literarischen Gattungen oder der Alltagssprache so streng strukturiert? Und wie trägt dies dazu bei, Bedeutungen zu vermitteln und ästhetische Erfahrung auszulösen? Das internationale Forscherteam ging von der Annahme aus, dass die feststehende Struktur von Gedichten als mentale Vorlage dienen kann, die es Lesern und Zuhörern erlaubt, kreative poetische Sprache in schlüssige Zusammenhänge zu gruppieren.
Um ihre Hypothese zu überprüfen, konzentrierten sich die Wissenschaftler auf Jueju-Gedichte. Hierbei handelt es sich um ein Genre altchinesischer Dichtung, das einen äußerst strengen Stil aufweist. Mit Hilfe eines neuronalen Netzwerks generierten sie künstliche Jueju-Gedichte mit von ihnen bestimmten poetischen Inhalten. Fast achtzigtausend altchinesische Gedichte aus fünf Dynastien wurden in die künstliche Intelligenz eingespeist, die lernte, Gedichte auf Grundlage des Jueju-Stils zu erstellen. Anschließend fügten die Forscher jedes der Gedichte zu einem Sprachfluss zusammen und entfernten dabei die Pausen, die Intonation und andere prosodische Anhaltspunkte eines menschlichen Sprechers, so dass sich die Zuhörer auf ihr Wissen über poetische Strukturen verlassen mussten, um den Sprachfluss zu analysieren.
In der Studie hörten chinesische Muttersprachler die künstlichen Sprachflüsse, während sie in einem MEG-Scanner lagen. Ziel der Forscher war es dabei, neuronale Signale in den Gehirnen der Studienteilnehmer zu erkennen, die den poetischen Strukturen der Jueju-Gedichte entsprachen. Tatsächlich entdeckten die Wissenschaftler einen Hirnrhythmus von etwa 0,67 Hertz, der der Zeilenstruktur von Jueju entspricht. Obwohl die Zuhörer jedes Gedicht zum ersten Mal hörten und nicht jede Zeile des Altchinesischen vollständig verstehen konnten, erkannten sie dennoch die strenge Struktur und gruppierten den poetischen Sprachfluss in Verse, entsprechend ihrer Vorkenntnisse von Jueju. Beim zweiten Durchgang hatte ihr Gehirn die Struktur bereits erlernt und konnte den Verlauf der Gedichte vorhersagen; dementsprechend beschleunigte sich ihr Hirnrhythmus.
Die Ergebnisse zeigen, dass die strengen Strukturen es den Zuhörern erleichterten, inhaltlichen Zusammenhänge in den Gedichten zu identifizieren und zu gruppieren sowie mentale Prognosen über den weiteren Verlauf zu erstellen. Damit liefert die Studie Hinweise darauf, dass für die ästhetische Wahrnehmung von Gedichten nicht nur die poetische Sprache allein, sondern insbesondere das Zusammenspiel von einer vorhersehbaren Struktur und unvorhersehbaren Inhalten wesentlich ist.
https://doi.org/10.1016/j.cub.2020.01.059
80.000 altchinesische Gedichte und künstliche Intelligenz zeigen, wie strenge Strukturen die Wahrneh ...
Bild: New York University Shanghai
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Criteria of this press release:
Journalists, Scientists and scholars, Students
Biology, Language / literature, Medicine
transregional, national
Research results, Scientific Publications
German
80.000 altchinesische Gedichte und künstliche Intelligenz zeigen, wie strenge Strukturen die Wahrneh ...
Bild: New York University Shanghai
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