Prof. Dr. Heino Stöver vom Institut für Suchtforschung der Frankfurt UAS nimmt Stellung zum Thema Sucht in der Krise
Wir leben in einer schwierigen Zeit, konfrontiert mit einer der größten Herausforderungen für unsere Gesellschaft seit dem Zweiten Weltkrieg. Die durch die Corona-Pandemie notwendigen Maßnahmen zur Verlangsamung der Ausbreitung des Virus sind notwendig; doch wie wirkt sich die Krise auf unsere Süchte aus? Prof. Dr. Heino Stöver vom Institut für Suchtforschung (ISFF) an der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS) nimmt Stellung dazu.
„Ich bin überzeugt, dass die momentanen Veränderungen in den Lebens- und Arbeitsbedingungen auch dazu führen, dass mehr Suchtmittel konsumiert werden. Das gilt sowohl für legale Drogen wie Alkohol und Tabak als auch für illegale Drogen wie Heroin, Kokain und Cannabis“, erläutert Stöver. „Drogen dürften auch verstärkt genutzt werden, weil die Leute glauben, damit Einschnitte und substantielle Veränderungen in der Lebensweise und im Zusammenleben kompensieren zu können. Das kann auch zu Stress führen, denn viele Möglichkeiten der Verheimlichung des Konsums bzw. der Sucht vor der Familie oder Partnerschaft fallen weg.“ Allerdings gebe es für das Ansteigen der Suchtgefahr in der Corona-Krise keine belastbaren Daten aus Untersuchungen, da es dafür noch zu früh sei. Zwar steigen die Umsatzzahlen der Alkoholindustrie stark an, dafür ist allerdings auch die Gastronomie geschlossen. „Eindeutig ist jedoch, dass die häusliche Gewalt durch Corona zunimmt, weil die Menschen auf vergleichsweise geringem Raum miteinander leben müssen“, ergänzt der Suchtforscher. „Das erhöht das Risiko aneinanderzugeraten; außerdem kann der Täter/die Täterin bei Quarantäne besser verhindern, dass das Opfer Hilfe holt. Wenn dazu beim Täter/bei der Täterin noch eine Suchtkrankheit kommt, sind die Folgen der häuslichen Gewalt oft noch gravierender.“
Abhängige von illegalen Drogen stehen durch Corona vor gewaltigen neuen Herausforderungen: Zunächst einmal gibt es auf den Schwarzmärkten kaum noch Drogen, weil die Grenzen geschlossen sind. Geld beschaffen können sich die Abhängigen auch kaum mehr. „Einen ‚kalten Entzug‘ vermeiden die meisten abhängigen Menschen zwar durch die Einnahme irgendwelcher Betäubungsmittel, aber eine Infektion mit Covid-19 dürfte aufgrund der vielfältigen Vorbelastungen für sie lebensbedrohlich sein“, erläutert Stöver. „Suchtkranke gehören ohnehin zu den Hauptrisikogruppen, weil viele vorerkrankt sind, häufig haben sie die Lungenkrankheit COPD.“ Hinzu kämen die teilweise prekären Zustände in den Drogenhilfen. „In den Frankfurter Konsumräumen sind mittlerweile Schutzkleidung, Mundschutzmasken und Desinfektionsmittel vorhanden und Sicherheitsmaßnahmen wie Abstandshaltung etc. werden weitgehend eingehalten“, sagt Stöver. Die Situation in Frankfurt sei mittlerweile insgesamt verbessert worden.
Zur Frage, ob Raucher/-innen ein größeres Risiko tragen, an Corona zu erkranken, gibt es widersprüchliche Standpunkte. „Durch die Belastung beim Rauchen sind die Abwehrkräfte des Bronchialsystems eingeschränkt“, sagt Stöver. „Der Tabakrauch setzt die Funktion der Flimmerhärchen in der Atemwegsschleimhaut außer Kraft, dadurch wird der Selbstreinigungsmechanismus in den Bronchien gestört.“ Zudem führten Raucher/-innen beim Ziehen an der Zigarette ihre Hände und damit mögliche Erreger oft ins Gesicht. Außerdem rauchten sie oft in Gesellschaft, sodass die Übertragung von Mensch zu Mensch einfacher erfolgen kann. Insgesamt betrachtet hätten Krankheitserreger wie das Corona-Virus so leichtes Spiel.
Die Corona-Pandemie könnte also ein Grund sein, um als Raucher/-in Umstiege auf weniger schädliche Substanzen oder einen Totalausstieg zu erwägen. So könnten Raucher/-innen auf die deutlich weniger gesundheitsschädlichen E-Zigaretten umsteigen. Die zeigten nämlich eindeutig weniger negative Auswirkungen auf die Atemwege als herkömmliche Zigaretten. „In Deutschland dürfen seit dem 20. April E-Zigaretten-Fachgeschäfte bis 800 qm wieder öffnen – ich hoffe, dass das Anlass für möglichst viele Raucher/-innen ist, weniger Filterzigaretten zu rauchen“, so Stöver. Dies sei umso wichtiger als Totalausstiege oft nicht funktionierten, die Menschen also schon viele erfolglose Ausstiegsversuche hinter sich hätten.
Zur Person:
Prof. Dr. Heino Stöver ist Dipl.-Sozialwissenschaftler und Professor für sozialwissenschaftliche Suchtforschung am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Frankfurt UAS. Er leitet seit 20 Jahren das Institut für Suchtforschung Frankfurt am Main (ISFF). Sein Tätigkeitsschwerpunkt ist die sozialwissenschaftliche Suchtforschung. Am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Frankfurt UAS leitet er den Master-Studiengang Suchttherapie und Sozialmanagement in der Suchthilfe.
Gerne steht Prof. Dr. Stöver für Interviews, Fragen und weitere Statements rund um das Thema zur Verfügung. Bitte wenden Sie sich bei Interviewanfragen an die Pressestelle der Frankfurt UAS unter pressestelle@fra-uas.de oder +49 69 1533-3048.
Institut für Suchtforschung Frankfurt am Main (ISFF)
Das Institut für Suchtforschung an der Frankfurt UAS arbeitet seit 1997 an der Weiterentwicklung zielgruppenspezifischer und lebensweltnaher Prävention, Beratung und Behandlung von Suchterkrankungen. Es erforscht Sucht in ihren verschiedenen Erscheinungsformen sowie die mit Sucht in Zusammenhang stehenden Probleme und Aspekte. Das Institut fördert den Ausbau von interdisziplinären Beziehungen zu Kooperationspartnern auf nationaler und internationaler Ebene. Forschungsprozesse und -resultate finden in Studium und Lehre Berücksichtigung.
Näheres zum Institut für Suchtforschung unter http://www.frankfurt-university.de/isff.
Kontakt: Frankfurt University of Applied Sciences, Fachbereich 4: Soziale Arbeit und Gesundheit, Prof. Dr. Heino Stöver, Telefon: +49 69 1533-2823, E-Mail: hstoever@fb4.fra-uas.de
Prof. Dr. Heino Stöver
Frankfurt University of Applied Sciences
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