Die „European Academy of Neurology“ (EAN) hat unter Federführung von DGN-Pressesprecher Professor Dr. Hans-Christoph Diener, Essen, eine Leitlinie zum Management des Medikamentenübergebrauchskopfschmerzes publiziert. Sie gibt Präventions- und Therapieempfehlungen, wie der Teufelskreis zwischen Kopfschmerzen und Einnahme von Schmerzmedikamenten und Migränemitteln vermieden bzw. durchbrochen werden kann. Außerdem rückt sie ein relevantes Gesundheitsproblem unserer Gesellschaft in den Fokus der Behandler.
Medikamentenübergebrauchskopfschmerz („medication-overuse headache“/MOH) ist ein häufiges Problem im klinischen Alltag. Es wird geschätzt, dass er bei 1% der Bevölkerung und bei 70% aller Patientinnen und Patienten mit chronischen Kopfschmerzen vorliegt, davon in vier von fünf Fällen bei Menschen, die an chronischer Migräne leiden. Man spricht von MOH, wenn an über 15 Tagen pro Monat Kopfschmerzen auftreten und diese über einen Zeitraum von mehr als drei Monaten mit einem oder mehreren Schmerzmedikamenten behandelt werden. Für Triptane ist die Einnahme an mehr als 10 Tagen im Monat zur Diagnosestellung Voraussetzung. Besonders gefährdet, einen MOH zu entwickeln, sind Patienten, die an einer weiteren Schmerzerkrankung leiden, wie z.B. chronischen Rückenschmerzen, oder Menschen mit schwerer Migräne; häufige Begleiterkrankungen des MOH sind Angsterkrankung und Depression.
Die neue Leitlinie der „European Academy of Neurology“ gibt anhand von sieben sogenannten „PICO questions“ (P= popular, I= intervention, C= control, O= outcome) Empfehlungen für das Management von Medikamentenübergebrauchskopfschmerz. Grundlegende und wichtigste Präventionsmaßnahme sind nach Ansicht der Autoren Information und Patientenedukation. Sie können maßgeblich dazu beitragen, dem MOH bei Migränepatienten vorzubeugen. Die Leitlinie empfiehlt darüber hinaus, dass „MOH-Risikopatienten“ in regelmäßigen Abständen (alle 3-6 Monate) vom Allgemeinmediziner oder Neurologen gesehen werden sollen. Diese Empfehlung ist zwar streng genommen nicht evidenzbasiert, laut Professor Dr. Hans-Christoph Diener, DGN-Pressesprecher und Erstautor der Leitlinie, aber eine „Common Sense“-Empfehlung. „Wir wissen, dass Patienten seltener einen MOH entwickeln, die umfassend über den Zusammenhang von Schmerzmitteln und Schmerzmittelübergebrauchskopfschmerz informiert wurden, und es gibt Studien, die zeigen, dass ein Beratungsgespräch plus Print-Informationsmaterial um einiges effektiver ist als das Informationsmaterial allein. Es liegt auf der Hand, dass regelmäßige Gespräche die Sensibilität für die Thematik erhöhen und die Bereitschaft, trotz Schmerzen gelegentlich auf Medikamente zu verzichten oder die Dosis zu reduzieren, weiter stärken“, so der Experte.
Die intensive Beratung ist somit ein probates Mittel zur MOH-Prävention, gelangt aber an Grenzen, wenn es um die MOH-Behandlung geht: Die alleinige Beratung kann zwar bei Übergebrauch von Triptanen oder einfachen Analgetika zielführend sein, wenn keine größeren psychiatrischen Komorbiditäten vorliegen – bei Übergebrauch von Opioiden, Barbituraten oder Tranquilizern rät die Leitlinie aber zur Überweisung an einen Kopfschmerzexperten oder in ein spezialisiertes Schmerzzentrum. Denn grundsätzlich muss immer ein Entzug oder zumindest eine sanfte Reduzierung der Übergebrauchsmedikamente erfolgen, um den MOH langfristig zu therapieren. Ein erfolgreiches Ausschleichen oder Absetzen der Schmerzmedikation gelingt fast nur in sehr enger Betreuung, die je nach Komplexität und Zustand des Patienten stationär, teilstationär oder ambulant erfolgen kann. Wichtig ist jedoch, dass diese Betreuung multidisziplinär erfolgt, neben Neurologen sollten auch Schmerzmediziner und Verhaltenspsychologen eingebunden sein.
Offen bleibt letztlich die Frage, zu welchem Zeitpunkt bei Patienten mit MOH und chronischer Migräne eine gezielte Migränetherapie, z.B. durch Onabotulinumtoxin Typ A oder CGRP-Antikörper erfolgen sollte. „Im Prinzip ist es ratsam, die Patienten zunächst vom Schmerzmittelübergebrauch zu entwöhnen, bevor man diese spezifischen Migränemittel einsetzt, auch um beurteilen zu können, wie stark und häufig die Kopfschmerzen sind, wenn der MOH wegfällt. Auf der anderen Seite darf man nicht vergessen, dass gerade Patienten mit chronischer Migräne stark leidgeprüft sind und wir ihnen eine wirksame Medikation nicht über eine längere Zeit vorenthalten sollten. Die Entscheidung, wann die Migränetherapie initiiert wird, ist also immer nur individuell zu treffen“, so Diener.
„Die Bedeutung der vorliegenden Leitlinie liegt darin, dass sie auf das Problem des MOH aufmerksam macht und auch Ärztinnen und Ärzte für das Phänomen sensibilisiert. Bei einer Prävalenz von 70% bei Patienten mit chronischen Kopfschmerzen, das sind geschätzt über eine halbe Million Menschen, ist die MOH ein relevantes Gesundheitsproblem, das eine gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit erfahren sollte. Die europäische Leitlinie unter der Federführung von Prof. Diener trägt dazu bei und wird hoffentlich vielen Betroffenen zur Schmerzfreiheit oder zumindest einer deutlichen Verbesserung der Kopfschmerzen verhelfen“, kommentiert Professor Dr. Peter Berlit, Essen, Generalsekretär der DGN, abschließend.
[1] H. C. Diener, F. Antonaci, M. Braschinsky et al. European Academy of Neurology guideline on the management of medication‐overuse headache. European Journal of Neurology 2020. First published: 19 May 2020. https://doi.org/10.1111/ene.14268
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Professor Dr. Hans-Christoph Diener, Essen
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